piwik no script img

Vision und Augenschein

Ist die barocke Kunst- und Wunderkammer die Keimzelle des Cyberspace?  ■ Von Rüdiger Zill

Wenn wir heute ins Museum gehen, sind wir gewohnt, daß uns die Dinge ordentlich getrennt präsentiert werden: die Renaissance-Malerei in einem Haus, Dampflokomotiven in einem anderen. Diese Parzellierung ist aber alles andere als selbstverständlich; sie ist eine Erfindung des 18. Jahrhunderts. Die Vorläufer unserer modernen Museen waren die frühneuzeitlichen Kunst- und Wunderkammern vor allem an den Höfen der barocken Fürsten – und diese Kunstkammern waren ganz anders organisiert.

Neben antiken Skulpturen und zeitgenössischen Kunstwerken fanden sich darin auch Objekte aus den drei Reichen der Natur, dem mineralischen, dem vegetabilen und dem animalischen: kostbare Steine, seltene Metalle, exotische Wurzeln und Samen, Präparate und lebensechte Nachahmungen verschiedener Tiere. Daneben menschliche Artefakte, kuriose oder eher praktische: Musikinstrumente, Waffen, astronomische Geräte, Puppenmodelle, Maschinen und Automaten.

Die Logik, der die Kunstkammern gehorchten, war eine enzyklopädische. Die Welt sollte auf engem Raum vollständig repräsentiert werden, sowohl ontologisch als auch räumlich: Alle Gegenden des Erdballs sollten vertreten sein. Die große Zeit der Kunstkammer waren die beiden Jahrhunderte zwischen etwa 1540 und 1740. Die richtungweisenden Prinzipien dieses Sammlungstyps formulierte schon 1565 Samuel Quiccheberg. Was er beschrieb, fand sich sehr ähnlich dann auch in der Praxis realisiert, etwa in den Sammlungen der Habsburger Herrscher.

Der Hamburger Kunsthistoriker Horst Bredekamp hat die Kunstkammern nun zum Gegenstand eines Essays mit dem Titel „Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte“ gemacht. Der Untertitel ist allerdings einigermaßen irreführend. Was seinen ersten Teil betrifft, so darf man nicht bloß eine weitere Geschichte dieser frühen Gestalt des Sammlungswesens erwarten. Bredekamp interessieren vor allem die erkenntnistheoretische Bedeutung und die naturphilosophischen Implikationen des Sammlungstyps Kunstkammer.

Im Abschnitt „Forschung und Vision“ werden diese Wirkungen dann auch ausdrücklich zum Gegenstand seiner Überlegungen. Dabei darf man wohl aus „Vision“ durchaus eine doppelte Bedeutung heraushören: einerseits das Element des Visuellen, des Augenscheinlichen, andererseits aber auch des Vorausgreifenden, Imaginär-Antizipierenden, des Utopischen. Bredekamp behauptet, daß Theoretiker wie Kepler, Descartes und Locke, vor allem aber Francis Bacon in ihrem Denken durch die Kunstkammern wesentlich geprägt worden seien.

Das scheinbar planlose Nebeneinander der Objekte in der Kunstkammer hat nicht nur Methode – es macht gerade ihre besondere Produktivkraft aus. Die Natur spielt mit ihren Möglichkeiten, sie schafft im Selbstexperiment stetig Neukombinationen ihrer Elemente. Das versucht die Kunstkammer darzustellen und selbst noch zu überbieten: „Das Arrangement der Genera dient nicht zur Trennung der verschiedenen Bereiche, sondern es baut visuelle Brücken, um der Spielfähigkeit der Natur das Assoziationsvermögen der Augen zur Seite zu stellen.“

Gott selbst war als zweckfrei Spielender gedacht. Und wie der Erdball zur Kunstkammer des Schöpfers erhoben wurde, so erschien in der Kunstkammer die Welt im Haus. Das dichte Nebeneinander der verschiedenartigen Objekte verhilft dem Ebenbild Gottes, dem Menschen, selbst zu neuen Entdeckungen und Erfindungen. Im zweckfreien Spiel steckt eine unerwartete Kreativität.

Was Bredekamps Essay zu einer anregenden Lektüre macht ist, daß er die Geschichte von Philosophie und Wissenschaften nicht als bloße Ideengeschichte versteht, lediglich als Theorien, die auf Theorien antworten, bloßen Geist, der nur Geist gebiert. Er weist vielmehr darauf hin, daß diese Geschichte auch von anderen Denkmitteln abhängt: von materiellen, von visuellen.

Angesichts der visuellen Repräsentationen, die ihm selbst vorlagen und die in diesem Bändchen als dichte Folge von Abbildungen aus den unterschiedlichsten Bereichen wiederkehren, kulminiert sein eigenes Spiel der Ideen in einer ebenso interessanten wie kühnen These: Die Historisierung der Natur liege schon „im Horizont der Kunstkammern des 16. bis 18. Jahrhunderts“. Dies ist die Pointe des Bandes, und sie widerspricht mutig dem herrschenden wissenschaftshistorischen Konsens. Diesem gilt Immanuel Kants „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ von 1755 als frühestes Zeugnis einer Auffassung, nach der auch die Natur eine Geschichte habe, das heißt, daß sie eine qualitative Entwicklung durchlaufe. Zuvor glaubte man, daß die gesamte natürliche Welt durch den Schöpfungsakt schon gegeben sei und sich seitdem nicht mehr wesentlich verändert habe. Dieser Auffassung gilt selbst Kant als Avantgardist, dessen Vorstellungen lange Zeit folgenlos blieben, bis Lamarck und Darwin im 19. Jahrhundert einer Verzeitlichung der Naturgeschichte zum Durchbruch verhalfen.

Auch Bredekamp scheut davor zurück, in den Kunstkammern schon eine Evolutionstheorie angelegt zu sehen; es geht ihm auch nicht um eine Idee des linearen Fortschritts, die ein Zyklendenken überwindet: „Das Problem liegt nicht darin, daß der Zeitpfeil immer wieder in das Kreisdenken abgebogen wird, sondern daß seine Schußrichtung kein klares Ziel besitzt und daß er vor allem nur partielle Sektoren der Naturphilosophie durcheilt.“ In dieser Hinsicht sind bei Bacon und anderen schon „eindrucksvolle Äußerungen“ zu finden, „die in die Nähe eines evolutionären Denkens gelangen“. Ob sich diese These bewähren wird, bleibt abzuwarten.

In einem schießt Bredekamp aber übers Ziel hinaus. Dem Auge allein wird dann doch zuviel aufgebürdet. „Die Bilder laufen der Sprache und jenen Denkzonen, die sich sprachlich vermitteln, in der Regel voraus. Der Konflikt zwischen einer statischen und einer evolutionären Sicht der Natur ist daher zugleich der Widerstreit zwischen dem schockierend Unbekannten der visuellen Autopsie und dem Mut, diesen Eindruck in den Kontrollraum der Sprache und der Begriffe einzulassen.“

Nun hat die Mehrzahl der Wissenschaftshistoriker heute mit plausiblen Argumenten einem naiven Empirismus abgeschworen. Beobachtungsdaten sprechen nicht von allein, sondern erhalten ihren Sinn erst im Kontext eines theoretischen Vorverständnisses: Die gleichen Beobachtungen können je nach begrifflicher Einbindung andere Interpretationen erfahren.

Der Gestus der puren Unmittelbarkeit läuft auch Bredekamps eigenen Intentionen zuwider – denn im zweiten Teil des Untertitels wird ja von der Geschichte der Kunstkammer auf „die Zukunft der Kunstgeschichte“ geschlossen. Auch das ist etwas irreführend. Denn von der Zukunft seines Faches spricht Bredekamp allenfalls auf den letzten drei Seiten und dort auch nur sehr allgemein. Die Grundidee ist aber, daß – wie einst in den Kunstkammern und heute durch die moderne Computer- und Simulationstechnologie – eine visuell vermittelte Verschränkung von Kunst, Technik und Wissenschaft stattfindet. „Die hochtechnisierten Gesellschaften durchleben eine Phase der kopernikanischen Wende von der Dominanz der Sprache zur Hegemonie des Bildes. Die Kunstkammer, die schon einmal fast vollständig auf das Denken in und durch Bilder gesetzt hatte, lehrt, daß Disziplinen wie die Mathematik, die Sprachwissenschaft, die Psychiatrie und die Neurobiologie, um Beispiele von Fächern zu nennen, die zunehmend auf die Analyse assoziativ, ,chaotisch‘ oder kontrolliert entstandener Bilder setzen, gleichsam blind blieben, wenn sie das von der Kunstgeschichte aufgehäufte historische Material ignorieren würden. Die Welt der digitalisierten Bilder ist ohne Kenntnis der Kunstgeschichte nicht im Ansatz zu begreifen.“

Wie aber genau der Beitrag der Kunstgeschichte zu den heutigen Bildwelten auszusehen hätte, bleibt eine offene und meist unterschätzte Frage.

Horst Bredekamp: „Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte“. Verlag Klaus Wagenbach, 122 Seiten, 25 DM.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen