Virtual Reality made in Sweden: In London bringt IKEA den Menschen das Kochen bei: Pflegeleichter als das Universum
Herbstzeitlose
von Martin Reichert
Um die Mittagszeit herum verlässt der Londoner das Büro, um sich bei „Sainsburys“ oder „Tesco“ in Plastik eingeschweißtes Essen zu kaufen. Die Leute kochen einfach nicht mehr genug – so sorgt sich zumindest der Küchen- und Lebensmittelhändler (Köttbullar) Ikea.
Weil das nicht gut sein kann für die Menschheit, hat er gerade im Londoner District Shoreditch ein Pop-up-DIY Restaurant namens The Dining Club eröffnet. Zwischen den Bahnhöfen Liverpoolstreet, wo der Broker seinen in schmale Designeranzüge gequetschten Gymkörper in die Untergrundbahn schwingt, und Oldstreet, wo der Hipster mit Bart als Agent des Kapitalismus die Mieten hochtreibt, wird nun dank Ikea endlich mal schön gemeinsam gekocht. Mit Freund*innen und unter Anleitung eines schwedischen Sternekochs. Kostenlos, so man es rechtzeitig geschafft hat, einen der raren Plätze online zu ergattern. Und gesund, Fisch gibt es und Gemüse und keine bösen Köttbulllar.
Noch mehr Klischees gefällig? Die Leute, die dort im Pop-up-Store sitzen und Lachs mit Erbsen essen, sehen tatsächlich genauso aus wie im neuen Ikea-Katalog. Polysexuelle, binationale Paare mit Mehrfachmigrationshintergrund und Uniqlo-Outfit die vor lauter Yoga keine Rückenlehnen mehr brauchen, um sich zu entspannen. Ein Blick durch das Schaufenster wirkt wie eine Hommage an die Ära des Livefernsehens in den 50er Jahren; nur, dass man hier offensichtlich Leute aus der Nachbarschaft gecastet hat.
Erschreckend, aber am Ende ist es dann wie mit den Servietten und Kerzen, die man im Korb hat, obwohl man eigentlich gar nichts kaufen wollte: Ich gehe rein in den Lifestyle-Terrorladen, als unrasierter homosexueller First-Adopter selbstverständlich hochwillkommen. Sogleich riecht es wie im Ikea-Abhollager, und dort hinten links, zwischen unauffällig aufgestapelten Keramikschüsselchen und einer Demo-Version der kleinsten Küche der Welt, kann man also doch Köttbullar erwerben, fast schon tröstlicher Trash. Aber warum genau bin ich noch mal hier, frage ich mich, als ich aus Versehen fast in ein quietschbuntes Baiser aus Plastik beiße, die hier „Meringue“ heißen.
Durch Zufall gerate ich in den Kernbereich der ganzen Veranstaltung, einen Sperrholzraum: Hier kann man die Beta-Version der Ikea-Zukunft testen, das Virtual-Reality-Programm der Schwedenpopper: Du gibst uns alle deine Daten, wir verkaufen dir, was du brauchst! Schon recht bald werden wir alle diese Brillen aufhaben und Sticks in den Händen halten, während wir in unseren exakt simulierten eigenen vier Wänden shoppen. Erstaunlich, wie schnell man sich daran gewöhnt, in einer virtuellen Realität Köttbullar auf eine Induktionsherdplatte zu schmeißen und Schubladen zu öffnen – sich mithilfe der Gerätschaften in der virtuellen Welt zu bewegen.
Die in der Beta-Version noch nicht ganz fertig ist: Blickt man, Video-Taucherbrille auf dem Kopf, aus dem Ikea- Küchenfenster, sieht man nichts als einen unendlichen, weiß gekachelten Fußboden. Auch nicht tröstlicher als das Universum, wenn auch pflegeleichter.
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