Village Voice: Einstimmiger Chorgesang
■ Vokalakrobat verwurstet Klassisches aller Art: Michael Schiefel und sein verblüffend virtuos eingespieltes Debüt „Invisible Loop“
Menschen, die in ihren Stimmen Dinge anstellen, an die wir Gewöhnlichen nicht einmal zu denken wagen, nennt man bisweilen Vokalkünstler, und schon denkt man an die mehroktavigen furiosen KreischJaulStöhnÄchz- Arien einer Diamanda Galas oder eines Christian Wolz.
Mit derlei experimentellen Ausnahmeoperationen hat Michael Schiefel nicht viel am Hut. So akrobatisch er sich auch mit seinem Gesangsorgan in ungeahnte Bravourstücke versteigen mag, den Beigeschmack der zirzensischen Leistungsschau bekommt das nicht.
Sosehr sich Schiefel seiner ungewöhnlichen Fähigkeiten und Begabung sicher sein kann, er führt sie nicht selbstherrlich vor, sondern setzt sie auf vielfältige, irritierende bis eingängige Weise ein. Er bedient sich der Pop- und Jazzstandards von Stings „Walking in Your Footsteps“ über Nik Kershaws „Wouldn't It Be Good“ bis Michael Jacksons „I Want You Back“ und eignet sie sich bis zur partiellen Unkenntlichkeit an, vergreift sich respektvoll an Klassischem wie Johann Sebastian Bachs „Präludium“ und zeigt dabei, was er kann: Chorgesang mit nur einer Stimme.
Wer seine Konzerte besucht oder sich nun seine erste CD, „Invisible Loop“, anhört, wird es nicht glauben wollen. Der scheinbare Kinderchor im Hintergrund, der Scatter, der kontemplative Madrigalgesang, der sanfte Klang dieser vermeintlich weiblichen Leadstimme, die herbe Baßlinie und die scharrenden Gitarrenriffs – das alles ist ganz allein Michael Schiefel; kein doppelter Boden, keine verheimlichten, namenlosen Backgroundstimmen.
Der junge Mann, der hier seine Stimme intonationssicher Looping laufen läßt, ist darüber hinaus in allen Rhythmen zu Hause, swingt und rappt, funkt und gibt den Soul. Mit herkömmlichem A-cappella-Gesang hat das wenig zu tun, Schiefel verhilft dem Genre zum Sprung in die neunziger Jahre. Er schafft als technisierter Einzelkämpfer die Illusion eines ganzen Orchesters, tänzelt spielerisch zwischen raffinierten Improvisationen, lustigen Albernheiten, grazilen, lyrischen Momenten und Soundmixen, die man sich irgendwo im Grenzbereich von Bebop, Free Jazz und Techno-Sound angesiedelt vorstellen muß.
Ganz ohne Technik geht das nicht vonstatten. Das Zaubergerät heißt Loop Delay; mit diesem in der Schweiz entwickelten Instrument läßt sich selbst bei Live-Auftritten Tonspur um Tonspur eine Art Playback herstellen, auf dessen Grundlage der 27jährige smarte Blondschopf dann live die Leadstimme oder freie Improvisationen liefert. Unterstützt von Effektgeräten wie Phaser, Distorion oder Harmonizer, bekommt da diese ohnehin schon überaus wandelbare Stimme auch mal den Klang einer quiekenden E-Gitarre oder eines sanft brummenden Kontrabasses. Eine zeitgleich zur CD erscheinende CD-ROM ermöglicht dem Zuhörer/Zuschauer, selbst mit Vocal-Samples zu experimentieren.
Der in Münster aufgewachsene Musiker sammelte schon nach dem Abitur erste Bühnenerfahrungen als Mitglied des Modern Jazz Quintetts „Art Stars“ und als Mitbegründer eines Vokaltrios für experimentelle Musik. 1991 zog es ihn nach Berlin, zu einem Studium an der Hochschule der Künste. Als Jazzer mit seinem Quintett „Jazz Indeed“ hat er sich längst international einen Namen gemacht, im vergangenen Jahr erschien ihr Debütalbum, „Under Water“.
Als Vokalkünstler der besonderen Art steht er gerade am Anfang seiner ohne Zweifel erfolgreichen Karriere. „E.T. hat mit Billie Holiday geschlafen. Und Michael ist ihr Kind“, versucht sein Gesangslehrer Kirk Nurock das Rätsel des Stimmakrobaten zu erklären. „Diese Musik wird die blenden und dein Herz berühren.“ Wenn das kein Kompliment ist. Axel Schock
Michael Schiefel: „Invisible Loop“ (Traumton Records/ Indigo)
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