■ SommerSchule: Vier Jahre reichen
Der Berliner Schulstreit um die sechsjährige Grundschule ist nur vertagt. Nach der Sommerpause will das Land entscheiden, ob auch in Berlin mehr Schüler schon ab der 5. Klasse Gymnasien besuchen dürfen. Auf Peter Heyer, der für die sechsjährige Grundschule argumentierte (taz vom 22.7.1998), nun neun Argumente gegen diese Schulform. Sechs Jahre Grundschule gibt es in Berlin und Brandenburg.
1. Der Auftrag der Grundschule wird allgemein verstanden als eine dem Kinde gemäße grundlegende Bildung, die Basis für weiterführendes Lernen schafft. Der Unterricht konzentriert sich daher darauf, Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen zu vermitteln sowie in den Lernbereich Sachkunde einzuführen. Es besteht kein Zweifel, daß die Grundschule bisher diesem Hauptauftrag voll nachgekommen ist.
2. Würden der bestehenden Grundschule zwei volle Schuljahre hinzugefügt, müßte sich ihr Auftrag deutlich verändern. Aber in welche Richtung? Den Befürwortern scheint vorzuschweben, eine Art Übergangsstufe einzurichten, die Schüler vom vorfachlichen zum fachlichen Unterricht begleiten soll. Dies würde zu einer problematischen Doppelfunktion der Grundschule führen.
„Schulversager“
3. Das Argument, nach sechsjähriger Grundschule lasse sich – generell – eine bessere Prognose für die Schulkarrieren der Schüler und Schülerinnen erstellen, trifft nicht zu. Gründliche Erhebungen in Niedersachsen haben ergeben, daß selbst nach einer perfektionistisch eingerichteten schulartübergreifenden Orientierungsstufe noch etwa 25 Prozent Fehlleitungen von Schülern auf der SekundarstufeI vorkommen. Diese Unsicherheit gilt für die gesamte Breite eines Schülerjahrgangs, besonders aber für die mittleren Begabungen. Hier gibt es zweifellos viele „Spätentwickler“, aber auch unvorhergesehene „Schulversager“
4. Würden die SchülerInnen die Grundschule erst nach der sechsten Jahrgangsklasse verlassen, so besuchten sie die vielfach entscheidende Eingangsklasse der weiterführenden Schule etwa im Alter von 13 Jahren. Die beginnende Pubertät ist, entwicklungspsychologisch gesehen, eine ungünstige Zeit, um sich in der neuen Schulform einzugewöhnen.
5. Die Behauptung, in den Jahrgangsstufen 5 und 6 würden die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder weiter gestärkt, muß als zu pauschal und generell unzutreffend zurückgewiesen werden. Gerade der Wechsel der Schulart und veränderte Lernformen (vor allem mehr Fachunterricht) vermögen die Entwicklung der Kinder herauszufordern – wie jeder bestätigen kann, der dies einmal im Unterricht praktiziert hat. Die Entwicklungspsychologie spricht von Anspruchsniveau-Bildung nach dem zehnten Lebensjahr.
6. Die Argumente, in der verlängerten Grundschule lasse sich soziales Lernen besser einüben, in ihr würden die Schüler selbständiger und kooperationsfähiger, unterstellen den weiterführenden Schulformen auf diesem Gebiet Minderleistungen. Das ist unberechtigt. Beeinflußt durch die Gesamtschule haben sich alle Schularten in diese Richtung verändert.
7. Durch eine Verlängerung der Grundschule würden die weiterführenden Schulformen Integrierte Gesamtschule, Hauptschule, Realschule und Gymnasium um je zwei Jahre amputiert. Insbesondere die drei erstgenannten Schulformen würden dann zu drei- bis vierjährigen Schrumpfgebilden entarten.
8. Einer Ausdehnung der Grundschulzeit stehen im übrigen auch pragmatische Argumente entgegen: Die Zahl der Grundschüler würde sich von 3,6 Millionen auf rund 5,8 Millionen steigern. Rund 18.000 Grundschulen in Deutschland wären in ihrem Raumangebot um die Hälfte aufzustocken, und auch die Zahl der Lehrer müßte vermehrt werden – von rund 180.000 auf 270.000.
9. Endlich noch ein ganz schlichtes Argument: Im globalen Rahmen ist Deutschland auf ein möglichst hohes Bildungsniveau angewiesen. Die enorm angestiegene Nachfrage nach höher eingeschätzter, vor allem gymnasialer Bildung, zeigt, daß die Bevölkerung dies begriffen hat. Kann es sich die Bundesrepublik leisten, durch eine Verlängerung der Primarstufe eine Steigerung ihres schulischen Anspruchsniveaus zu retardieren? Klaus Westphalen
Der Autor ist emeritierter Pädagogikprofessor der Uni Kiel. Beiträge zur Debatte über die Zukunft von Schule und Hochschule (Stichwort „Sommerschule“) an Bildung@taz.de
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