: Viel zu spät
Rücktritt nun bei den SED-Filialen in West-Berlin ■ M A U E R B L I C K
Mit erheblicher Verspätung ist gestern nun auch die Parteiführung der Westberliner „Tochterfirma“ der SED, die SEW, zurückgetreten.Auf einer außerordentlichen Parteivorstandssitzung machten SEW-Büro und Parteivorstand ihre Sessel frei'um „ungerechtfertigte Spannungen“ in der Partei zu vermeiden. Ein Drittel der Belegschaft der Zeitung 'UZ‘ hat gestern den Parteivorstand der DKP aufgefordert, diesem leuchtenden Beispiel zu folgen.
Statt Rücktritt dagegen Anerkennung für Bärbel Bohley. Sie bekam gestern in der Westberliner Hochschule der Künste den mit 10.000 Mark West (respektive 100.000 Mark Ost) dotierten Karl-Hofer -Preis als Anerkennung dafür, daß sie sich „dem Spannungsfeld zwischen Kunst und Politik gestellt“ habe. Bärbel Bohley will die Preissumme den Menschen spenden, „die auch in der DDR zu kurz kommen“.
Zu kurz kommen sollen dagegen die DDR-Besucher Offenbachs nicht. Der Landkreis legt auf die 100 Mark Begrüßungsgeld noch 40 Mark aus dem eigenen Steuersack drauf. Nun darf man auf die Pleite der Gemeindekasse warten. Nicht lumpen ließ sich gestern auch ein bayerischer Elektronik-Unternehmer. Für mehr als 30.000 Mark schaltete er eine ganzseitige Anzeige in der 'FAZ‘ mit einem kyrillisch geschriebenen „Danke, Herr Gorbatschow, für den 9.November“. Währenddessen hat die Unionsfraktion gestern die Finanzierung von DDR -Hilfen durch Sondersteuern bzw. Steuererhöhungen abgelehnt. Auch für die Vorverlegung ihres „Kleinen Parteitags“ angesichts der Entwicklung in der DDR sieht die CDU keine Veranlassung.
Der Osten wird immer attraktiver. Weil alle nach Berlin wollen, wird PanAm für das Wochenende 16 Sonderflüge in die mittlerweile schon an 22 Grenzübergängen durchlöcherte Mauerstadt starten. Immobilienfachleute und Theologen schauen längst über das bröckelnde Bauwerk hinaus. Nach Mitteilung der evangelischen Kirche im Rheinland haben sich etliche Theologiestudenten gemeldet, die ein Pfarramt in der DDR übernehmen möchten. Sie müßten dann allerdings DDR -Bürger werden. Die Immobilienhändler gieren derweil auf Städte wie Berlin und Budapest.Selbst vor Immobiliengeschäften in Polen brauche „die Phantasie nicht Halt zu machen“, erklärte gestern das Vorstandsmitglied der Deutschen Immobilien Fonds AG in Frankfurt. Die Stadtväter des berühmten Schweizer Touristenorts Zermatt wollen lieber mit den Gästen von drüben Schlitten fahren. 30 Tourismus -Experten der DDR sind für eine Woche zum Nachhilfeunterricht eingeladen.
Ve.
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