: Verwandlung und Infektion
Wie eine Frau Ende des 19. Jahrhunderts in die Männerdomäne Medizin einbricht: Martin Klugers wunderlich mitreißender Roman „Die Gehilfin“
Als Martin Kluger vor vier Jahren mit „Abwesende Tiere“ einen Roman voll protzender barocker Erzähllust vorlegte, war die Kritik begeistert. Die Zahl der Leser dieses tausendseitigen Mammutwerks dürfte allerdings überschaubar geblieben sein. Die Zahl der Käufer ohnehin.
Dass Kluger mit seinem neuen Roman „Die Gehilfin“ knapp über dreihundert Seiten herunter- und sich mit der präzisen Führung des Plots näher ans Konsumierbare herangeschrieben hat, lässt sich da fast als Zugeständnis an die heiligen Gesetze des Marktes interpretieren. Man kann es aber auch als die Fähigkeit eines postmodernen Autors lesen, ebenso virtuos wie unmelancholisch die Schreibweise zu wechseln und sich in einen anderen zu verwandeln. Ganz so wie es Klugers Protagonistin tut, die sich in Männerkleidern und mit geschwärzten Wangen in die Medizinvorlesungen der Universität schmuggelt.
Die Geschichte von Henrietta Mahlow beginnt fast märchenhaft. Bei ihrer Geburt in der Berliner Charité stirbt die Mutter. Dem trunksüchtigen Vater wird gnadenhalber eine Anstellung als Krankenwärter angeboten. Er nimmt an, und so verbringt Henrietta ihre Kindheit inmitten der Abnormitätensammlungen in den Laboren der Charité, wo in diesen Jahren kurz dem Ende des 19. Jahrhunderts die Medizin revolutioniert wird. Wenn Robert Koch mit seinen Mitarbeitern Paul Ehrlich und Emil von Behring Leichen aufschneidet auf der Suche nach tuberkulösen Lungenteilen, sitzt Henrietta atemlos in ihrem Versteck und beobachtet die Männer bei ihrer Arbeit. Als das Mädchen aber das erste Mal selbst durch ein Mikroskop blicken darf, bekommt die kindliche Zauberwelt, die Kluger bildmächtig und mit einer unprätentiösen Sprachmelodie entwirft, einen neuen Sinn. Das flirrende Durcheinander unter dem Okular erscheint Henrietta wie das verheißungsvolle Versprechen auf ein anderes Leben, das sich unter der Oberfläche der Dinge verbirgt.
Die Leidenschaft, mit der sie sich fortan der Forschung verschreibt, nimmt in ihrer Kompromisslosigkeit fast unwirkliche Züge an. Um so wirklicher wird ihr Scheitern. Als Henrietta ernsthafte Ansprüche auf eine Karriere als Medizinerin geltend machen will, wird sie von den Männern, die sie bisher mit Marzipan und Winterstiefeln versorgt haben, kaltgestellt. Die historischen Figuren Koch, Ehrlich, von Behring und auch der alternde Rudolf Virchow werden von Martin Kluger mit wenigen Strichen in Sinnbilder einer patriarchalen Geschichtsmacht verwandelt, die bei aller Orientierung auf den Fortschritt doch immer noch an den Konventionen der wilhelminischen Gesellschaft festhält: Frauen haben in akademischen Kreisen nun mal nichts verloren, denn es fehlt ihnen am wissenschaftlichen Verstand. Und während mit Beginn des 20. Jahrhunderts die Moderne so richtig in Fahrt kommt, während elektrische Drähte die Welt umspannen, Luftschiffe Berlin überqueren und – Ironie des Schicksals – Frauen endlich zum Studium zugelassen werden, hat Henrietta sich an den Realitäten des 19. Jahrhunderts müde gelaufen.
Im Schlussteil des Romans wird ihr restliches Leben nur noch in fragmentarischen, manchmal traumgleichen Szenen aufgeblendet. Was Kluger hier vorlegt, ist – man muss es mit aller Verwunderung so schlicht sagen – ein unglaublich spannender und mitreißender Roman. Er hält sich dafür an die Konventionen einer fast kulturindustriellen Erzählkunst. Aber er justiert das poetische Okular auf die Geschichte der Medizin noch einmal neu. Was, wenn hinter all den männlichen Stars der Medizin eine junge Frau gestanden hätte, ohne deren Geistesgegenwart Robert Koch vielleicht niemals den Tuberkulosebazillus hätte entdecken können? Wer Klugers Buch gelesen hat, ist von dieser Frage aufs angenehmste infiziert. WIEBKE POROMBKA
Martin Kluger: „Die Gehilfin“. Dumont, Köln 2006, 300 Seiten, 19,90 Euro