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■ KolumneVerstudentisierung

Ist Mick Jagger bedeutungslos? Eine interessante Vorstellung, ausgelöst dadurch, daß Anne Philippi in Spex in einer Kritik des Films Grease schrieb: „Kult ist immer dann, wenn eine Sache bedeutungslos geworden ist – so wie Tapetenmuster aus den 50er Jahren oder Mick Jagger.“ In Hamburg rennen in drei Wochen rund 70.000 Menschen zu so einer alptraumhaften Veranstaltung, wie es ein Stadionkonzert ist. Bedeutungslos? Schön wär's.

Aber es ist ja nicht nur, daß die Massen sich nicht davon abbringen lassen, diesen Mann zu lieben – egal, wie formelhaft, selbstparodistisch, schwachsinnig seine letzten circa zwanzig Alben gerieten. Mick Jagger und die Rolling Stones sind zu einer Wirtschaftsmacht herangewachsen, die nicht nur über die Existenz von Konzertagenturen und Plattenfirmen entscheidet und damit bei der derzeitigen Fusionswelle im Medienbereich durchaus nicht unerheblichen Einfluß auf die Wall Street ausübt. Im Bereich Marketing zählen sie etwa mit ihren Kooperationen mit VW oder Sat 1 zu den Trendsettern und treiben so die Vereinnahmung der Popkultur durch den modernen Kapitalismus und ihre Instrumentalisierung in Riesenschritten voran. Mick Jagger bedeutungslos zu nennen, weil man seine Platten und seine öffentliche Person für blöd und langweilig hält, das ist wie Chrysler-Daimler und Microsoft bedeutungslos zu nennen, weil man Fahrrad fährt und mit der Hand schreibt.

Wahrscheinlich wollte Kollegin Philippi bloß zum Ausdruck bringen, daß sie Jagger für bedeutungslos für den Fortgang der Popkultur hält. In gutem Alt-82er Pop-ist-subversiv-Denken beschränkt sich die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Rolling Stones seit Jahren darauf, ob Jagger „Street Fighting Man“ ernst meinte oder ob es bloß Rebellenpose war. Ganz davon abgesehen, daß auch mächtige Strippenzieher (Richard Branson, Alan McGee, Dieter Gorny u.v.a.) für den Fortgang der Popkultur wichtig sind, war natürlich die Verbindung der Rolling Stones zum British-Blues-Boom der 60er wesentlich interessanter. Dennoch verkaufen sich aber ihre 90er-Platten am besten.

Die Arroganz, die die Verweigerung der Auseinandersetzung mit Massenphänomenen wie den Rolling Stones zum Ausdruck bringt, ist eines der Übel, das die Verstudentisierung des Pop-Journalismus mit sich bringt. Es ist nicht nur, daß man sich schicker, hipper und jünger dünken darf, wenn man seine musikjournalistische Energie ausschließlich auf Nischen wie Lyricist Lounge richtet, die immer gleichen Produkte der Rock-Gründergeneration stellen für eine Auseinandersetzung im Geiste der Kritischen Theorie kaum eine Herausforderung dar.

Daß der Musikjournalismus der Linguistik-Studenten dennoch ein großer Sprung nach vorne gegenüber der Arbeitsweise der vorherigen Generation der sprichwörtlichen „frustrieten Musiker“ ist, beweisen die alljährlichen Titelgeschichten der auflagenstarken Musikmagazine zu den Themen Stones, Clapton, Cocker usw. immer wieder in grausamer Deutlichkeit.

Detlef Diederichsen

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