Verstrahlte Schmetterlinge: Mutanten aus Fukushima
Wie gefährlich sind niedrige Dosen radioaktiver Strahlung? Ein mutierter Schmetterling aus der Nähe des AKW-Fukushima, hilft, diese Frage zu beantworten.
„Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann einen Wirbelsturm auslösen“ – das ist die populärste Aussage der Chaostheorie. Die Flügel von 144 Schmetterlingen der Art Zizeeria maha verursachen knapp 18 Monate nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima einen erheblichen Wirbel unter Strahlenbiologen. Und sie sorgen für Chaos in der Verteidigungsstrategie der internationalen Atomgemeinde, die bislang die nukleare Niedrigstrahlung als harmlos darstellt.
Ein japanisches Forscherteam hat in einer umfangreichen Studie bei drei Generationen Faltern aus der Familie der Bläulinge schwere Mutationen am Körperbau festgestellt und führt die Strahlenbelastung als Ursache dafür an. Damit ist zum ersten Mal offenbar der Hinweis gelungen, dass die Strahlung von Fukushima die Evolution der Lebewesen in der Umgebung massiv beenflusst.
„Diese Studie verändert den Blick von uns Biologen auf Gefahren von radioaktiver Strahlung“, sagt der Strahlenexperte Timothy Mousseau von der Universität von South Carolina gegenüber der taz. Mousseau hat die Strahlenfolgen auf Tiere in der stark verstrahlten Zone um das AKW Tschernobyl untersucht.
Nach der Atomkatastrophe in Fukushima ist kein Anwohner unmittelbar durch die aus dem AKW ausgetretene Radioaktivität erkrankt. Das größte Problem sind radioaktive Jod- oder Cäsium-Isotope, die in geringer Konzentrationdauerhaft die Umwelt belasten und für sogenannte Niedrigstrahlung sorgen. Wer viel fliegt, bekommt zwar zum Teil mehr Strahlung ab. Der Unterschied zu radioaktiven Gebieten ist jedoch: Isotope können sich langfristig im Fettgewebe von Menschen anlagern und so den Organismus und die Zellen schädigen.
Nach dem Super-GAU in Tschernobyl 1986 sind Arbeiter nach wenigen Tagen oder Wochen gestorben – wegen extrem hoher Strahlung. In den unterschiedlich belasteten Gebieten starben 10.000 bis 100.000 Menschen an Krebs. Wie viele wegen Niedrigstrahlung starben, ist schwer zu ermitteln. Laut dem US-Wissenschaftler Timothy Mousseau haben die Mutationen unter Tieren in stärker verseuchten Gebieten „dramatisch“ zugenommen. (ia)
Die japanische Forschergruppe um Atsuki Hiyama und Chiyo Nihara von der Universität Ryukyu in Okinawa fand verkleinerte Flügel bei Schmetterlingen aus der Umgebung von Fukushima, die zum Zeitpunkt des Unglücks Larven waren. In der zweiten und dritten Generation dieser Tiere stieg der Anteil der Missbildung weiter an.
Informationslage ist lückenhaft
Und eine neue Suche im September 2011 ergab bei frei lebenden Schmetterlingen Auffälligkeiten wie verkürzte Fühler in 28 Prozent der Fälle, schreiben die Forscher im Onlinejournal Scientific Reports. Daraus folgern sie, „dass künstliche Radionuklide aus der Nähe des Atomkraftwerks von Fukushima physiologische und genetische Schäden bei dieser Spezies verursacht haben“.
Dieser eindeutige Hinweis auf Strahlenschäden ist bisher die Ausnahme. Denn auch fast eineinhalb Jahre nach dem Super-GAU in Fukushima ist die Datenlage sehr lückenhaft: „Es ist nicht klar, welche Forschung in Japan läuft“, sagt Mousseau, der selbst 2011 und 2012 in Fukushima war. „Es wird viel geforscht, aber oft wenig international publiziert.“
Er hat mit Kollegen den Einfluss des Unfalls auf die Tierwelt untersucht und sagt: „Radioaktive Verseuchung stört die Vielfalt von Lebewesen durch Strahlung und chemische Vergiftung.“ Die Artenvielfalt geht zurück, die Tiere leben kürzer und haben weniger Nachkommen.
In Fukushima fand Mousseau einen deutlichen Rückgang bei Vögeln und Schmetterlingen, allerdings nicht bei Bienen, Grashüpfern oder Libellen, die Zahl der Spinnen ist sogar gewachsen. Offenbar seien die chemischen Belastungen kurzfristig wichtiger, die Erfahrung aus Tschernobyl zeige aber, dass „die Strahlenschäden über die Jahre zunehmen“.
Vor allem belege die japanische Studie, dass „auch niedrige Strahlung zu Mutationen führen können. Das widerspricht der bisherigen Lehre, dass Niedrigstrahlung für Tiere und Pflanzen nicht so gefährlich ist. Deshalb wird in dem Bereich wauch wenig geforscht.“
Was passiert im Meer?
Bislang sind Berichte über mögliche genetische Schäden nach Fukushima eher Anekdoten. Japanische Zeitungen berichten vom Fund eines Agrarprofessors aus Hokkaido, der in Blattläusen aus der Evakuierungszone rund um das AKW Fukushima zehnmal mehr Deformationen als normal an Beinen und Fühlern gemessen habe.
Andere Berichte sprechen von Zedern, die hohe Strahlenbelastungen in ihren Pollen speichern, der Blog „Fukushima Diary“ sammelt Berichte über abnorm aussehende Gurken, Kohlköpfe und Löwenzahnpflanzen. Über aussagekräftige Studien an Säugetieren ist nichts bekannt.
Vor allem fehlen international publizierte Untersuchungen zu den Auswirkungen auf Tiere und Pflanzen im Meer. „Studien zu Spätschäden wie einem erhöhten Risiko für Erkrankungen oder Missbildungen sind uns derzeit nicht bekannt“, teilt das deutsche Johann-Heinrich-von-Thünen-Institut für Meeresökologie mit. Dabei hatte vergangenes Jahr das französische Forschungszentrum IRSN gemahnt, die Belastung von Fischen, Muscheln, Krebsen und Algen im Meer vor Fukushima müsse genau im Auge behalten werden.
Eine aktuelle Studie des Instituts findet, die Belastung für Wälder, Würmer und Nagetiere sei „10- bis 100-fach höher, als es für sicher gehalten wird“; für die Lebewesen am Strand von Fukushima sieht sie „schwere reproduktive Einschränkung bis hin zum Absterben“ voraus. Schließlich hatten Lecks in den Atomanlagen und das verseuchte Kühlwasser aus den maroden Reaktoren das Wasser teilweise mit bis zu 300.000 Becquerel verseucht – das 7,5-Millionen-Fache des Grenzwerts.
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