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Versäumnisse in der Politik der Erinnerung

■ Peter Schneider und Tom Segev im Dialog zwischen den Enkeln der Täter und Opfer

„Im Israel der letzten zehn Jahre hat der Holocaust, der von Nazideutschland an den Juden verübte Genozid, eine zunehmende identitässtiftende Rolle übernommen.“ Tom Segev, israelischer Journalist und Historiker, stellte gestern morgen in der deutsch-jüdischen Dialogreihe Brückenschlag in den Kammerspielen eine bemerkenswerte Entwicklung fest: Während man, so Segev, in den 50er Jahren, ähnlich wie in Deutschland, in Israel den Holocaust gänzlich verdrängte, sei er heute in aller Munde. Kein Tag vergehe mehr, an dem die „Judenvernichtung“ nicht thematisiert werde.

Dabei wird die systematische Erinnerungsarbeit auch politisch instrumentalisiert, wenn die Kritik an der Politik - insbesondere der Außenpolitik - Israels als antisemitisch diffamiert wird. Dies geschah zu Beginn der Libanonkrise während der Amtszeit von Ministerpräsident Menachem Begin am deutlichsten. Unter dem heikel-schwierigen Titel Die negative Symbiose? maß Segev im Podiumsgespräch mit dem Rowohlt-Verlagsleiter Michael Naumann und dem Autor Peter Schneider der Geschichte des Holocausts für das heutige kollektive Selbstverständnis des jüdischen Staates große Bedeutung zu.

Welche Rolle und welche politische Funktion übernimmt der Holocaust aber für die Deutschen heute? Diesbezüglich warf Michael Naumann, bewußt zugespitzt fragend, in die Runde, ob der Holocaust für die Bundesrepublik nicht so etwas wie ein letzter „common sense“ sei? Ob nicht gerade die Rede von Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des 8. Mai 1945 eine politische Moral zementiert habe, in der die Geschichte Nazideutschlands und die der Judenvernichtung als letzte gemeinsame Konstituente der deutschen Gesellschaft diene.

Peter Schneider, der sich in seinen Büchern eingehend mit der widersprüchlichen deutschen Vergangenheitsbewältigung auseinandersetzte, griff darüber hinaus den, wie er sagte, „Unschuldskomplex“ der westdeutschen Linken auf. Mit der Parole „Nie wieder Krieg“ hätten sich die 68er als Superpazifisten und Obermoralisten geriert und sich in einen heillosen Wettbewerb „Wer ist der Unschuldigste“ verstrickt. Daraus habe sich eine „Feigheitslehre“ herausgebildet, um ja nicht in die (kriegerischen) Auseinandersetzungen der Anderen involviert zu werden. Abschließend kritisierte Naumann die „Politik der Erinnerung“. Die Geschichtswissenschaft habe in der Bundesrepublik unzureichend historiographische Arbeit geleistet.

Dierk Jensen

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