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Archiv-Artikel

Verrückte Welt

Brice Chauvins Debüt „Hotel Harabati“ (Forum) setzt auf sanfte Verstörung: Dürfen wir unseren Augen trauen?

Marion (Hélène Fillières) und Philippe (Laurent Lucas) wollen verreisen, nach Venedig, sie sitzen am Flughafen auf einer Bank. Ein arabisch aussehender Mann spricht die Frau an, sie kommen ins Gespräch, er bittet sie, auf sein Gepäck aufzupassen. Er verschwindet und kehrt nicht zurück. Die beiden nehmen die Tasche an sich, darin finden sie Geld in unbekannter Währung. Auf dem Kofferanhänger arabische Schrift, nur die Adresse „Hotel Harabati“ scheint zu entziffern.

Es folgt ein Schnitt, der sich dann als Ellipse entpuppt. Die beiden waren nicht in Venedig, obwohl sie es der Mutter des Mannes (Anouk Aimée) erzählen. Warum sind sie nicht gefahren? Warum behaupten sie trotzdem, dass sie gefahren sind? Das verschweigt der Film.

Statt zu erklären, setzt er auf sanfte Verstörung. Ein wenig – ein paar Ellipsen – später wird die Frau Fotos abholen, auf denen, zu ihrem Entsetzen, Bilder von Venedig zu sehen sind. Das kann nicht sein, aber der Mann im Fotoladen versichert, dass es sich nicht um eine Verwechslung handelt. Beide, der Mann, die Frau, sehen, beim Blick aus der Straßenbahn oder im Fernsehen, den Araber vom Flughafen, sie fragen sich, ob sie halluzinieren. Wir als Zuschauer sehen, was sie sehen, und wir wissen dabei nicht, ob wir ihren Augen trauen dürfen. Der Film setzt auch uns nichts ins Bild, lässt uns die Halluzinationen der Figuren teilen, die vielleicht gar keine sind.

Der Mann, die Frau, sind auf Wohnungssuche. Gegenüber einer Wohnung, die er besichtigen will, befindet sich eine Synagoge. Der Mann betritt sie, lernt einen Besucher der Synagoge kennen. Sie werden sich im Schwimmbad wiederbegegnen, sie freunden sich an, er zieht zu ihm und sie singen zu Opernmusik.

Der Film zeigt uns das, als wäre es die selbstverständlichste Sache von der Welt. Und fast fällt man auf sein Understatement herein. Die Verrückung der Welt geht schleichend vonstatten und scheint beim Zusehen fast nicht bizarr. Man folgt den absurden Wendungen mit Neugier, ohne zu ahnen, wohin die Reise geht.

Erzählt wird die Geschichte einer Infektion, die Züge von Paranoia trägt. Es ist, als breite sich der bloße Schriftzug „Hotel Harabati“, mit der Tasche des Reisenden wie zufällig ins Leben dieser Familie geraten, zusehends darin aus. Er wird nie mit Bestimmtheit lesbar, aber die Zeichen, die auch in Richtung Terrorismusangst weisen, häufen sich, ohne sich je zu einer Botschaft zu stabilisieren. Alles spielt sich ab als Rätsel im vertrautesten Alltag. Einzig das Ende führt kühn in Gegenden – der Welt und des Bedeutens –, auf die man, wie auf das meiste, nicht gefasst sein durfte. Die Schönheit von „Hotel Harabati“ liegt im souveränen Verzicht auf Auflösung. EKKEHARD KNÖRER