: Verrat an den Kindern
betr.: Die Kindererziehungsdebatte von Doris Schröder-Köpf
Mit großem Interesse verfolge ich die von Ihnen, Frau Schröder-Köpf, entfachte Diskussion über die Notwendigkeit von mehr und besserer Erziehung unserer Kinder, der Vermittlung von Benehmen und Wertmaßstäben. Ich bin von Beruf Psychologin mit dem Schwerpunkt Familientherapie und arbeite in einer Einrichtung in Berlin-Neukölln. Neukölln ist ein so genannter sozialer Brennpunktbezirk mit einem hohen Anteil an Sozialhilfeempfängern, Arbeitslosen und Ausländern. Meinen KollegInnen und mir werden Tag für Tag Kinder von ihren Eltern vorgestellt, die in ihrer motorischen, geistigen und sozialen Entwicklung auffällig sind. Die Kinder sind in aller Regel nicht durch zum Beispiel genetische Defekte oder perinatale Komplikationen behindert, sondern durch die sozialen Verhältnisse, in denen sie aufwachsen. Gewalt, sexueller Missbrauch, Drogen und Alkohol, (drohende) Obdachlosigkeit, Überschuldung, instabile Familienverhältnisse, emotionale Vernachlässigung. Für die grundlegenden Bedürfnisse von Kindern ist da kein oder kaum Platz. Häufig sind diese Probleme transgenerational: Die Eltern sind Opfer und Täter zugleich. Zu erwähnen sei noch, dass die Warteliste unserer Einrichtung lang ist.
Die von mir beschriebene Bevölkerungsgruppe wird immer größer, die Probleme werden immer komplexer. Entsprechend größer wird die Zahl der Kinder und Jugendlichen, denen es an einer tragfähigen sozialen, emotionalen und häufig auch mentalen Entwicklung fehlt. Durch die Ignorierung dieses sicher in die Millionen gehenden Kinderelends legen wir zur Zeit einen sozialen Sprengstoff, der zur Explosion kommt durch steigende Jugendkriminalität, Drogensucht und Rechtsradikalismus in einem bisher nicht vermuteten Ausmaß.
Da Ihr Mann sich so sehr freut, welche familienpolitische Glanzleistung er und sein Kabinett vollbracht haben mit der Erhöhung des Kindergeldes um 30 Mark für alle Familien in unserem Land, erlauben Sie mir bitte, dazu Stellung zu nehmen. Die Aufstockung des Kindergeldes bringt überhaupt nichts für die Kinder und Familien, deren Lebensbedingungen ich hier beschreibe. Was diese Kinder brauchen, um den Anschluss an ein selbstbestimmtes, soziales Leben in unserer Gesellschaft zu finden, nämlich Geborgenheit, Schutz und Fürsorge, ist für Kindergeld nicht zu haben. Ich empfinde es immer mehr als Verrat an diesen Kindern, immer neue finanzielle „Wohltaten“ über die Familien zu gießen, gleichzeitig aber Schulen, Kitas, Freizeiteinrichtungen, Erziehungsberatungsstellen etc. immer mehr den Bach runtergehen zu lassen.
Was alle Familien brauchen, ist ein gutes Bildungssystem, gute außerfamiliäre Betreuungssysteme mit Strukturen, in denen ErzieherInnen qualifiziert und motiviert arbeiten können, und ein Nachdenken darüber, wie in unserem Staat das elterliche Sorgerecht eigentlich definiert und überprüft werden soll und wie man Eltern zu mehr Kompetenz verhelfen kann.
Wenn es Ihnen Ernst ist mit Ihrer Forderung, müssten Sie sich fragen, warum denn so viele Kinder nicht mehr in der Lage sind, sich angemessen zu verhalten. Die populistische Forderung allein, man solle Kindern Benehmen beibringen, kann leicht die Stammtischparolen nach Zucht und Ordnung stärken und beleben. ANTJE WILLMS-FASS, Berlin
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