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■ VLBVernunft & Härte

In den achtziger Jahren betrieb Wolfgang Welsch einen gutgehenden kleinen Importbetrieb am Rande der festinstallierten akademischen Welt; die Spezialität seines Sortiments waren Theorien, die damals behelfsweise „postmodern“ genannt wurden. Mit Hilfe von Welschs Reader „Unsere postmoderne Moderne“ (Weinheim 1987) konnte eine neue Studentengeneration sich mit Namen wie François Lyotard, Jacques Derrida, Gianni Vattimo, Gilles Deleuze und Felix Guattari e tutti quanti vertraut machen, die trotz Widerstands aus Frankfurt von Außenseitern zu kanonischen Autoren geworden waren.

Soeben hat Welsch ein mächtiges Werk vorgelegt, dessen konziser Titel im Verein mit der schwindelerregenden Seitenzahl das Ende der Bescheidenheit markiert: „Vernunft“ heißt es und zählt 983 Seiten. Warum, mag sich da manch einer fragen, dann eigentlich nicht gleich über tausend? Der plötzliche Eindruck, nichts mehr zu sagen zu haben, kann jedenfalls der Grund für die unvermittelte Arbeitsniederlegung vor Erreichen der Vierstelligkeit nicht gewesen sein. Wären Wolfgang Welsch solche skeptischen Anwandlungen vertraut – sein Buch wäre kaum halb so dick. Vielleicht ging es Welsch in erster Linie darum, Peter Sloterdijks „Kritik der zynischen Vernunft“ abzuhängen (954 Seiten). Vielleicht erlosch der Ehrgeiz just in dem Moment, wo er den letzten philosophischen Bestseller aus einheimischer Produktion hinter sich wußte.

Über weite Strecken bietet sein Buch noch einmal die Rekonstruktion der „zeitgenössischen Vernunftkritik“ jener Autoren, mit deren Ideen Welsch einst schon so schwunghaften Handel betrieben hatte. Wer die Schrecken der Universitätsseminare mit ihren quälend langsam dahinplätschernden Referaten glücklich vergessen hat, dem wird die Lektüre dieses Buchs aufhelfen. „Die Relevanz von Lyotards Ansatz wird deutlich, wenn man Problemfälle untersucht. (...) Die heterogenen Diskursarten vertreten unterschiedliche Ansprüche und haben eine je eigene und unsubstituierbare Logik. Aus dieser grundsätzlichen Disparität resultiert die Schärfe der Probleme. Indem Lyotard sein Augenmerk mit analytischer Schärfe auf diese Differenzen richtet, eignet seinem Ansatz eine außerordentlich Fähigkeit zur Problemexposition.“

Es wäre kaum erwähnenswert, daß die Sprache in diesem Buch über Hunderte von Seiten hinweg so vertraut studentoid klappert, wenn nicht allenthalben Wolfgang Welschs Überzeugung durchschiene, die Relevanz seines Ansatzes, seine eigene außerordentliche Fähigkeit zur Problemexposition, liege im „ästhetischen Denken“. Warum nur schreibt er dann so öde? An einer Stelle wird behauptet, „der ehedem für prinzipiell gehaltene Unterschied zwischen wissenschaftlicher und ästhetischer Rationalität“ habe sich „als bloß gradueller Unterschied herausgestellt“. Der freudlose Jargon freilich, in dem solche Behauptungen stur vorgebracht werden, widerlegt die fröhliche Botschaft. „Bis in die Alltagsauffassung hinein setzt dieses Bewußtsein vom grundlegend ästhetischen Charakter unseres Erkennens, unserer Wirklichkeit und all unserer Orientierungen sich heute durch.“ Wie es um solches Bewußtsein bei Welsch selbst bestellt ist, führt etwa die an Werbung für Hautkosmetik gemahnende Metaphorik des folgenden Satzes vor: „Die ästhetische Axiomatik ist in die Poren der Gesellschaft und die Köpfe der Individuen gedrungen.“

Der zweite Teil des Werks ist der Entfaltung eines neuen Rationalitätsbegriffs gewidmet: der „transversalen Vernunft“. Bei der Beschreibung dieses Vermögens verfällt Welsch am Ende in die pfäffische Sprache der Lebenshilferatgeber: „Transversalität erlaubt uns, unterschiedliche Gesichtspunkte wahrzunehmen und zu verfolgen sowie in der Verschiedenheit von Optionen nicht unterzugehen, sondern vorletzte Justierungen als lebbarer zu erkennen als ultimative Festschreibungen. Man erfährt und denkt dann in Übergängen. Und man weiß, daß man sich in ihnen nicht verliert, sondern gewinnt, und daß man dabei übereinstimmungsfähiger wird mit Dingen und Menschen, daß man dadurch auch in sich reicher und bei aller Vielfalt einträchtiger werden kann.“ Welche Chuzpe, dergleichen windelweiche Weisheiten eiskalt als „Konzept der transversalen Vernunft“ aufzutischen – solcher Unverfrorenheit möchte man fast Respekt zollen: „Man wird die eigene Position weder krampfhaft vor jeglicher Infragestellung schützen noch ständig verändern müssen. (...) Weder zwingt sie [die transversale Vernunft, d. R.] daher zu theoretischem Rigorismus, nach innen oder außen, noch führt sie zu praktischer Intoleranz und Härte.“

Wer allerdings bis hierher gelesen und also bis zum Coming out des Philosophen als Briefkastenonkel 948 Seiten Referat relevanter Ansätze durchgestanden hat, dem wird es schwerfallen, einen Wunsch nach praktischer Intoleranz und Härte gegenüber Wolfgang Welsch weiterhin zu unterdrücken.

Wolfgang Welsch: „Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft“. Suhrkamp Verlag, 983 Seiten, geb., 148 DM.

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