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Verheerende Folgen der Atomtests in KasachstanDas Erbe des sowjetischen Imperiums

■ In den 40 Jahren des Kalten Krieges haben die sowjetischen Militärs in Kasachstan 700 Atombomben gezündet. Jetzt berichtet eine sowjetische Ärztin über die Folgen dieses Atomkriegs gegen die Bevölkerung.

Die sowjetischen Atombombentests bei Semipalatinsk in der Sowjetrepublik Kasachstan haben katastrophale gesundheitliche Schäden für rund eine Million Menschen zur Folge. Auf einem internationalen Symposium über Atomwaffentests im nordschwedischen Lulea legte die aus Semipalatinsk kommende Medizinprofessorin Maira Zjangelova erschreckendes Zahlenmaterial vor: Bei einer Mehrheit der von Reihenuntersuchungen erfaßten, im Umkreis des Testgebietes lebenden Menschen seien Hinweise auf zum Teil schwere Schädigungen des körperlichen Immunabwehrsystems festgestellt worden. Die Rate einzelner Krebserkrankungen liege um ein Mehrfaches höher als im Landesdurchschnitt, ebenso die Zahl von mit körperlichen Schäden geborenen Kindern.

Laut Zjangelova sterben im Semipalatinsk-Gebiet dreimal soviel Menschen an Blutkrebserkrankungen wie im sowjetischen Durchschnitt. Auch eine Reihe anderer Krebserkrankungen weise deutlich erhöhte Raten auf. Dies gelte insbesondere für Lungenkrebs und sonstige Erkrankungen der Luftwege. Besonders auffallend seien Kinder betroffen: Die Rate von mit körperlichen Schädigungen geborenen Kindern liege dreifach höher, die der an solchen Schädigungen im Kleinkindalter erkrankten Kinder fünffach über dem Landesdurchschnitt. Deutlich erhöhte Werte weise auch die Zahl der Säuglingssterblichkeit auf.

Ein bislang nur ansatzweise erfaßtes Problem stellen nach Maira Zjangelova die schweren depressiven Erkrankungen im Bereich von Semipalatinsk dar: „Die Erklärung hierfür ist, daß die Menschen jahrelang unter ständiger Bedrohung, Angst und Gefahr leben mußten, erst nach und nach den Umfang dieser Gefahren erfassen, völlig unsicher und verzweifelt sind. Die depressiven Erkrankungen ihrerseits führen dann wiederum schnell zu anderen Erkrankungen, von denen man auf den ersten Blick hin gar nicht den direkten Zusammenhang zu den Tests erkennen kann.“

„Die Angaben von Maira Zjangelova passen in das Bild, das die Sowjetunion offiziell bereits gegenüber den Vereinten Nationen für deren Atomwaffenstudie zugegeben hat“, beurteilt Jan Prawitz vom schwedischen Verteidigungsministerium die Zuverlässigkeit der in Lulea an die Öffentlichkeit gelangten Zahlen. „Aber sie sind umfassender, detaillierter und noch beunruhigender.“ Maira Zjangelova hat ihre Zahlen aus der eigenen Forschungsarbeit sowie aus, wie sie sagt, „offenen, aber noch nicht systematisch erschlossenen Quellen“ gewonnen.

Ein Teil der von ihr jetzt vorgelegten Informationen war von den Behörden jahrelang unter Verschluß gehalten worden. Obwohl es nach Angaben der Medizinerin aufgrund einschlägiger Untersuchungen bereits seit 1949 deutliche Hinweise auf die gesundheitsgefährdenden Auswirkungen der Atombombentests gegeben habe, sei die Bevölkerung noch weitere vier Jahrzehnte diesen Tests ausgesetzt gewesen: „Erst als die Menschen selbst merkten, was der Grund für ihre Krankheiten war und protestierend auf die Straße zogen, wurden die Militärs gezwungen, die Tests einzustellen.“

...um sie jetzt auf der Nordmeerinsel Nowaja-Semlja fortzusetzen. Die schwedischen „Ärzte gegen Atomwaffen“ warnen die Bevölkerung in Skandinavien angesichts der Probesprengungen in Nowaja-Semlja. Professor Tapio Rytomaa, Leiter der radiobiologischen Abteilung der finnischen Strahlenschutzzentrale: „800 Kilometer sind überhaupt keine Entfernung für die radioaktiven Gase, die schon bei ganz normal verlaufenden unterirdischen Probesprengungen unweigerlich frei werden. Wenn aber dann auch noch ein Unfall geschieht, was angesichts der bisherigen Erfahrungen früher oder später der Fall sein wird, hängt der Umfang der Katastrophe nur noch von der Zufälligkeit der gerade herrschenden Windrichtung ab.“

Auf einen anderen, in der Diskussion oft vernachlässigten Gefahrenaspekt der unterirdischen Tests wies der Chemiker Boris Bondarenko aus Leningrad hin. Nach erfolgter Sprengung bleibt das Atomtestareal im großen und ganzen sich selbst überlassen. Die hochradioaktiven Restprodukte der Tests werden völlig ungenügend unter Kontrolle gehalten. Bondarenko: „Es besteht ein stetiges Risiko dafür, daß Gase aus diesen Restprodukten unkontrollierte chemische Reaktionen und möglicherweise Explosionen auslösen, welche weite Gebiete radioaktiv verseuchen können.“

Das Thema des Symposiums in Lulea waren alle weltweit durchgeführten Atombombentests. Wenn dabei die Berichte aus der Sowjetunion im Mittelpunkt des Interesses standen, dann deshalb, weil die Gefahren dieser Tests hier bislang am deutlichsten bekannt geworden sind. Der US-Mediziner Anthony Robbins aus Boston, der ebenfalls an dem Symposium teilnahm, sprach nach dem Vortrag der sowjetischen Ärztin von der „weltweit offenbar schlimmsten Erfahrung mit Atomwaffen“. Robbins gehört zu den führenden Mitgliedern der 1985 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Organisation „Internationale Ärzte gegen den Atomkrieg“ (IPPNW), die den Kongreß veranstaltete. Robbins erklärte: „Jede einzelne atomare Sprengung, gleich wo, stellt ein extremes Risiko für Mensch und Natur dar.“ Er ist Vorsitzender der internationalen Ärztekommission, die gerade dabei ist, einen Bericht über die Umwelt- und Gesundheitsauswirkungen der Atombombentests zu erarbeiten. Dieser Bericht soll der UN- Konferenz über den Stopp der Atomtests im Januar in New York vorgelegt werden. Robbins: „Das, was wir jetzt über die schlimmen Folgen in der Sowjetunion gehört haben, macht ein internationales Atomtestverbot dringlicher als lange schon.“ Reinhard Wolff, Lulea

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