: Vergeblich — aber notwendig!
■ Eine Lesung mit Christa Wolf, Lubice Monikova und Sjali Gadschijewa
Was bleibt von diesen vierzig Jahren?« fragt eine Zuhörerin. »Deutschland, das Land der Nazis und der Stasi?« — Vergangenheit.
Die Ratlosigkeit, so zeigte sich bei der Veranstaltung »Texten auf der Spur — Scheherazade nach dem Golfkrieg«, ist überall die gleiche. In Deutschland, der CSFR und der Sowjetunion. Nur in Prag wird auch Stolz bekundet: »Wir Studenten von 68 können stolz sein auf unsere Kinder«, zitiert die tschechische Schriftstellerin Lubice Monikova einen Graffiti von 89 auf dem Wenzelsplatz. Dieser Stolz auf etwas, das außerhalb des Fußballplatzes liegt, sei in Deutschland rar, sagt sie.
Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt, schlüpf unter die Deck. Morgen früh, wenn Gott will wirst du wieder geweckt. Das Brahmslied inspirierte Christa Wolf zu einem Nagelessay. Die Nageltonne, in der die Prinzessin den Berg hinuntergerollt wird, Nägel mit Köpfen, Sargnagel, Neidnagel, das Schwarze unterm Nagel, niet- und nagelfest, Notnagel. Nägel und Verletzungen. Den Nagel auf den Kopf getroffen. Das ist stellenweise sehr komisch, aber kaum jemand traut sich zu lachen. Die Wolf hat eine Art, von ihrem Text aufzusehen, daß man Angst bekommt, sie würde den strengen Blick auf einen richten und fragen: Was amüsiert Sie? Warum haben Sie gelacht?
Wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. Aber nur, wenn er will. Möglicherweise befindet er dich für nicht wert, wieder geweckt zu werden. Schuldgefühle. Die Diskussion zeugt von der totalen Irritation über das Leben im Jahre drei nach der Wende. »Ans Kreuz der Vergangenheit genagelt. Jede Bewegung treibt die Nägel tiefer ins Fleisch«, liest Wolf. Es ist nicht vergeblich, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, hat sie einmal geschrieben. Heutzutage, sagt sie, würde sie einen solchen Satz nicht mehr drucken lassen.
Stolz auf die Kinder in Prag. In Deutschland werden sie für ihr Engagement gegen den Golfkrieg von den Eltern niedergemacht. Von der Revolution, die auch in Deutschland die Jungen angeführt haben, redet keiner mehr. Ratlosigkeit.
»Heute kann jeder alles sagen und niemand hindert ihn. Das höhlt den Widerstandswillen aus«, sagt ein alter Mann. Und in der Sowjetunion? Sjali Gadschijewa, Deutschprofessorin aus Dagistan, erzählt von ihrem Vater, der Kommunist war, und dem Großvater: »Ein braver Mann. Warum haben die Kommunisten ihn enteignet?« Sie verliert den Faden, verheddert sich zwischen Großvater und Vater und sagt dann: »Es ist dieselbe Situation mit der Vergangenheit, Unsicherheit, Schuldgefühl und den Nägeln.«
»Zum Erzählen ist die Zeit zu klamm«, konstatiert Monikova und zählt statt dessen die Katastrophen des Jahres 1991 auf: Frauenausbeutung, Drogen, S-Bahn-Surfen, Krieg, Ausländerfeindlichkeit, Ozonloch, Aids. Gesammelte Zeitungsmeldungen von 1991. In der Aneinanderreihung furchtbar und doch nicht schlimmer als 1987, 64 oder 56. Vergeblich, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen? Vergeblich, aber notwendig — sagt Christa Wolf freudlos.
Am Ende ist es Gadschijewa, die die Schlußworte findet: »Eigenständig sein bedeutet auch, einsam zu sein. Seit acht Jahren bin ich allein, also eigenständig und unabhängig. Aber glücklich bin ich doch nicht. Daheim auf meinem Sofa sitze ich allein. Allein mit den Nägeln und Schuldgefühlen.« ana
Die nächste Lesung findet am 25. Januar in der literaturWERKstatt in Pankow statt. Voraussichtlich lesen Elke Erb und Salemaa Saleh.
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