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Archiv-Artikel

Verführung und Gewalt

Der Starhistoriker Richard Evans hat eine solide, nüchterne und klar geschriebene Darstellung des Aufstiegs des Nationalsozialismus vorgelegt. Aber die Synthese, die er anstrebt, gerät ihm trotz seines Könnens und seiner Professionalität doch nur zur Reprise des Bekannten und bereits Veröffentlichten

Evans blickt auf die Parteipolitik und achtet wenig auf die Erosion sozialer Bindungen

VON MICHAEL WILDT

Es gibt Verlagsankündigungen, die einem Bange machen. „Eine epochale Gesamtdarstellung des Dritten Reiches“ verspricht die Deutsche Verlagsanstalt und will das erste Buch des dreibändigen Werkes von Richard J. Evans in einer Startauflage von 50.000 Exemplaren drucken. In erster Linie solle sich das Werk, so der Autor selbst, an LeserInnen wenden, „die nichts oder nur wenig über das Thema wissen und gern mehr erfahren möchten“. Aber warum sollten sie gerade nach drei dicken Büchern greifen? Schließlich gibt es seit Jahren sehr gute, moderne und preiswerte Darstellungen des „Dritten Reiches“, etwa von Norbert Frei, Ludolf Herbst, Bernd-Jürgen Wendt oder Wolfgang Benz.

Evans meint, die Zeit sei reif für eine Synthese älterer Werke. So will er von Karl Dietrich Bracher die lange Linie der deutschen Geschichte übernehmen, von Michael Burleigh die Hervorhebung der Gewalt und von William L. Shirer das erzählende Moment. Reicht das für eine „epochale Gesamtdarstellung“?

Der erste Band soll die Ursprünge des Nationalsozialismus und den Weg an die Macht behandeln. Weit ausholend beginnt Evans im deutschen Kaiserreich. Dort sieht er autoritäre Strukturen, soziale Spannungen und kulturelle Orientierungslosigkeit im Prozess der Modernisierung in Nationalismus und Antisemitismus münden.

Das ist nicht falsch, aber ähnelt großteils eher einem allgemeinen Lehrbuch zur deutschen Geschichte. Wenn Evans erneut Adolf Stoecker, Wilhelm Marr und andere als Sprecher eines mittelständischen, kleinbürgerlichen Antisemitismus vorstellt und insbesondere die Arbeiter vor jedweder Judenfeindschaft gefeit sieht, geht er über die älteren Interpretationen nicht hinaus. Zudem vermeidet er die spannende Frage nach dem christlichen und milieugeprägten Volksantisemitismus.

Und warum Deutschland? Wäre zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Beobachter gefragt worden, in welchem Land er „eliminatorischen“ Antisemitismus erwarten würde, hätte er sicher Frankreich genannt. Überall in Europa wurde der Ruf nach „Lösung der Judenfrage“ laut, und doch war der Nationalsozialismus eine deutsche Erfindung. Will man nicht wie Daniel Goldhagen eine mörderische Mentalität der Deutschen erkennen, die nur auf die Gelegenheit zur Praxis wartete, so wird man sich auf die Zwischenkriegszeit konzentrieren. Neben den „Modernisierungskrisen“ des Kaiserreichs gelten generell die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die nachfolgenden schweren politischen wie wirtschaftlichen Erschütterungen als Gründe für den Nazismus. So sieht es auch Evans.

Nun kann man ihm nicht vorwerfen, den nahezu zeitgleich erschienenen jüngsten Band der deutschen Gesellschaftsgeschichte von Hans-Ulrich Wehler nicht zu berücksichtigen. Aber im Vergleich fällt auf, wie stark Evans seinen Blick auf die Kabinetts- und Parteipolitik richtet und wie wenig auf die Erosion sozialer Bindungen und politisch-kultureller Lebenswelten. Während die sozialmoralischen Milieus der Liberalen, Konservativen, Katholiken und Sozialisten brüchig wurden, konnte sich die NSDAP, wie Wehler darlegt, als junge, klassenübergreifende „Volkspartei“ präsentieren.

Evans bemüht sich um kulturgeschichtliche Grundierung, aber dann greift er doch immer wieder auf Victor Klemperers Tagebuchnotizen zurück. Seine Parteigeschichte der NSDAP besteht aus einer Folge von Kurzbiografien der NS-Funktionäre. In seiner Analyse der Wahlergebnisse mag Evans nicht vom falschen Glauben an die besondere NS-Resistenz der Arbeiter lassen. Er bleibt bei einer Phänomenologie des Geschehens, konstatiert etwa den frühzeitigen hohen NSDAP-Stimmenanteil in ländlichen, protestantischen Gegenden, nennt aber dafür außer der Agrarkrise, die ja auch für die katholische Landbevölkerung galt, keine überzeugende Gründe.

Die Untersuchung des Amalgams, das der lutherische Staatsprotestantismus mit Nationalismus, Judenfeindschaft und der religiösen Aufladung des Nationalsozialismus eingegangen sein könnte, verlegt Evans auf den zweiten Band und weicht der spannenden Frage nach der „politischen Religion“ aus.

So entsteht das bekannte Bild vom Scheitern der Weimarer Republik durch institutionelle Schwäche, Mangel an Demokraten, Gewaltansturm der extremistischen Bewegungen, nationale Demütigung durch den Versailler Vertrag und tiefe Verunsicherung durch Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise. Das alles ist nicht verkehrt, aber stark vergröbert und fällt vor allem hinter die Möglichkeiten zurück.

Die politischen Emotionen, die in den eruptiven Wahlerfolgen der NSDAP ihren Ausdruck fanden, sind damit ebenso wenig erklärt wie der Glaube an das Charisma des „Führers“, der die Wünsche nach Einheit und Heil mit dem Versprechen einer künftigen „Volksgemeinschaft“ zu bündeln wusste. Für Evans waren es vornehmlich Propaganda und Straßenterror, mit denen die Nationalsozialisten den Deutschen die Köpfe verdrehten. Das las sich schon bei Hans-Ulrich Thamer subtiler, der sein Standardwerk programmatisch mit „Verführung und Gewalt“ überschrieb.

Im letzten Drittel dieses ersten Bandes schildert Evans den Furor der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933. Hier entsteht zum ersten Mal ein plastisches, fesselndes und spannungsreiches Bild von der gewaltsamen Zerschlagung der politischen Opposition und „Gleichschaltung“ aller Verbände; von der Zerstörung der demokratischen Institutionen, vom Aufbau eines Terrorsystems mit Gestapo und Konzentrationslagern; von den antisemitischen Kampagnen und Gesetzen auf der einen und der Inszenierung der „Volksgemeinschaft“ auf der anderen Seite. Obwohl bereits Bracher selbst, jüngst auch Saul Friedländer oder Peter Longerich diese revolutionäre Dynamik eindringlich beschrieben haben, gehören diese Kapitel dennoch zu den besten des Buches.

Richard Evans, eine der internationalen Koryphäen der Geschichtswissenschaft, hat eine solide, nüchterne und klar geschriebene Darstellung des Aufstiegs des Nationalsozialismus vorgelegt. Aber die Synthese, die er anstrebt, gerät ihm trotz seines Können und seiner Professionalität doch zur Reprise des Bekannten und bereits Veröffentlichten. Zurück bleiben der Verdacht, dass das Verlagskalkül nicht aufgehen wird, und zugleich die Hoffnung, dass gerade in Zeiten, in denen die Großmeister der Zunft zu abschließenden Gesamtdarstellungen anheben, sich die neuen Fragen als die interessanteren erweisen könnten.

Richard J. Evans: „Das Dritte Reich. Band I: Aufstieg“. Aus dem Englischen von Holger Fließbach und Udo Rennert, DVA, München 2004, 752 Seiten, 39,90 €