Verfassungstext und Wirklichkeit: Karriere und Gewissen
Dagmar Metzgers Gewissensentscheidung hat beim Publikum nur Achselzucken provoziert. Dabei spricht nichts dagegen, den "inneren Gerichtshof" Kants öffentlich zu machen.
BERLIN taz Es war die Untertreibung des Jahres: "Die anderen 41 Abgeordneten sind nicht begeistert." So kommentierte die Vorsitzende der hessischen SPD, Andrea Ypsilanti, am Dienstag die Absicht der Landtagsabgeordneten Dagmar Metzger, sie, die Chefin, weiterhin nicht wählen und dennoch ihr Mandat behalten zu wollen. Dagmar Metzger selbst sagte dazu, sie sei nicht gewählt worden, um bei den ersten Problemen wegzulaufen.
Tatsächlich waren Teile der hessischen SPD-Führung schlecht beraten, als sie Metzger nahelegten, bei anhaltendem Starrsinn ihr Mandat niederzulegen. Das kam schlecht an, denn rein verfassungsrechtlich betrachtet gibt es am Fall Metzger nichts zu deuteln. Sie ist an keine Weisungen gebunden und hat, im Gegensatz zum weisungsgebundenen imperativen Mandat, das Recht, bei ihrer Stimmabgabe nur ihrem Gewissen zu folgen. Manche SPD-Führer wie Franz Müntefering vertraten in der Vergangenheit die Auffassung, Gewissensentscheidungen seien nur zulässig, wo jenseits der Parteigrenzen um ethische Grundsatzentscheidungen gerungen werde, zum Beispiel im Bereich der Stammzellenforschung. Diese Ansicht widerspricht dem Wortlaut der hessischen wie der bundesdeutschen Verfassung. Jeder Abgeordnete kann jede Frage jederzeit zur Gewissensfrage machen.
Aber wie verträgt sich dieser hehre Grundsatz mit der Praxis der Fraktionsdisziplin, der "Fraktionssolidarität", wie es euphemistisch im Kleingedruckten der SPD heißt? Hat etwa irgendein SPD-Bundestagsabgeordneter Gewissensbisse angemeldet, als vor dem Wahlkampf von 2005 die CDU-Pläne zu einer zweiprozentigen Mehrwertsteuererhöhung wütend bekämpft wurden, nach der Wahl aber die SPD in der großen Koalition einer dreiprozentigen Erhöhung zustimmte? War das nicht ein ernster Fall von Glaubwürdigkeitsverlust, gegen den das Gewissen eigentlich hätte rebellieren müssen?
Was hier auseinanderklafft ist Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit. Die Verteidiger der Fraktionsdisziplin argumentieren, dass es im Parlament keine Alternative zum einheitlichen Auftreten der Fraktion gebe. Denn an der Notwendigkeit, verlässliche Mehrheiten für die Verabschiedung von Gesetzen zu organisieren, komme kein verantwortlicher Politiker vorbei. Arbeitsteilung und Spezialisierung im Parlament brächten es nun mal mit sich, dass Abgeordnete ihren Stimmführern vertrauten und abstimmten, oftmals ohne zu wissen, wofür oder wogegen sie die Hand heben.
Die große Mehrheit der Abgeordneten verdankt ihr Abgeordnetenmandat wie ihre gesamte politische Karriere dem Parteiapparat. Verstößt ein Abgeordneter in einer wichtigen Frage gegen die Fraktionsdisziplin, so muss er damit rechnen, sich bei den nächsten Wahlen ernste Schwierigkeiten bei der Kandidatennominierung einzufangen. Der politische Dissident hat mit der Sanktion des Parteiapparats zu rechnen. So sind den Regungen des Gewissens hohe Hürden vorgesetzt. Letzten Endes lautet also die Alternative: Folge ich meiner politischen Überzeugung oder setze ich meine Karriere aufs Spiel?
Zu Zeiten der Honoratiorenparlamente stand für die Abgeordneten nicht ihre gesamte Lebensplanung infrage, wenn sie ihren Parlamentssitz einbüßten. Sie gingen dann eben wieder ihren privaten Beschäftigungen nach. Der Hinweis auf die Gewissensfreiheit richtete sich damals gegen den Versuch der Einflussnahme durch die Exekutive. Heute ist zwar eine große Zahl von Parlamentariern durch eine Beamtenexistenz im Wartestand vor dem sozialen Absturz geschützt, aber das ist ein schwacher Trost angesichts des sozialen Kapitals, das mit dem Abgeordnetendasein verbunden ist. Die Fraktionsdisziplin hat demnach sogar eine existenzsichernde Bedeutung für die Mandatsträger.
Der Gesetzgeber hat es wohlweislich unterlassen, zu definieren, was eigentlich eine Gewissensfrage heißt. Gemeinhin versteht man darunter den Rekurs auf moralische Grundsätze angesichts von schwierigen Entscheidungssituationen. Es gilt, das Für und Wider zu erörtern, abzuwägen und dann "mein Gewissen" sprechen zu lassen. Dieser Prozess der Überlegung ist gemeint, wenn Immanuel Kant vom Gewissen als "innerem Gerichtshof" spricht, wo Kläger und Beklagte ihre Argumente vorbringen und wo schließlich der Richter - das "Gesetz in mir" - das Urteil spricht. Bei Kant ist das eine unhintergehbar mit der Individualisierung zusammenhängende menschliche Fähigkeit.
Im privaten Bereich sind Gewissensentscheide aber oft nicht kommunizierbar. Sie müssen im Herzen ausgetragen werden, und zumindest die christliche Religion hat für das "irrende Gewissen" Tröstung bereit. Schließlich ist das Gesetz des Herrn selbst ins Herz der Heiden eingeschrieben. Auch unter Verhältnissen politischer Tyrannei müssen Gewissensentscheidungen oft einsam erfolgen. Was aber spricht eigentlich dagegen, unter demokratischen Verhältnissen im Bereich politischer Entscheidungen den "inneren Gerichtshof" öffentlich zu machen? Dann wären im Fall von Dagmar Metzger die Abgeordneten der hessischen Landtagsfraktion zu Verfahrensbeteiligten des jetzt "äußeren Gerichtshofs" geworden. Diese Wende vom Privaten ins Öffentliche hätte den außerordentlichen Vorteil geboten, mit den moralischen Problemen einer Zusammenarbeit von Rot-Rot auch die Frage zu erörtern, wie die Partei eine solche Liaison verkraften kann, sprich wie sicher die Mandate der Abgeordneten nach vier Jahren Minderheitsregierung gewesen wären. Das hätte einer solchen Debatte ein realistisches Kolorit verschafft.
Indem aber Dagmar Metzger ihren Gewissensentscheid erst kurz vor der geplanten Installation der hessischen Minderheitsregierung bekanntgab, sah sich ihr Gewissensargument einer peinlichen öffentlichen Nachprüfung ausgesetzt. Metzger hatte erklärt, sie könne es als geborene Berlinerin nicht ertragen, sich von Leuten unterstützen zu lassen, die für den Bau der Berliner Mauer verantwortlich gewesen seien. Solche Gewissensnot ruft natürlich sofort die Gegenfrage auf den Plan, ob es sich denn bei der Berliner SPD um vollkommen gewissenlose Figuren handle, weil sie mit der PDS/Linken ins Bett gegangen sind. Und ob sich diese Liaison "unterm Strich", das heißt auch hinsichtlich der Sicherheit der SPD-Abgeordnetenmandate, nicht doch ausgezahlt habe. Der Einwand, in Berlin habe es sich um einen "Ossi"-Sonderfall gehandelt, ist zumindest für Dagmar Metzgers moralisches Argument nicht verwendbar.
Dagmar Metzger hat für sich die Maxime "Standhalten, nicht flüchten" in Anspruch genommen. Ganz so wie Dr. Martin Luther bei seinem berühmten Auftritt auf dem Wormser Reichstag von 1521. Aber so ganz ohne den Beistand weltlicher Macht musste der Reformator nicht auskommen. Gleiches trifft auf Dagmar Metzger zu. Denn diesmal folgt der Dissidenz nicht die übliche Abstrafung durch die rächende Parteizentrale. Metzger konnte auf mächtigen Schutz seitens einer Reihe der SPD-Granden vertrauen. Sie befragte ihr Gewissen, wagte den Sprung - und landete sicher im Rettungsnetz.
Der Gewissensentscheid Dagmar Metzgers hat aber aus anderen Gründen beim Publikum nicht jene Bewunderung hervorgerufen, die wir jeder mutigen Tat zollen, auch wenn wir mit ihrer Zielrichtung nicht einverstanden sind. Nichts Erhabenes, keine Katharsis. Nur Achselzucken und Abwendung angesichts dieses Schmierentheaters. Der Grund ist hier zu finden: Wo immer es um das Verhältnis zur Linkspartei geht, dominieren bei der Sozialdemokratie reflexhafte Abwehrhaltungen, strenge A-priori-Festlegungen gefolgt von einem stufenweisen, gequälten "Wenns nicht anders geht, dann eben doch mit sogenannten Linken." Nirgendwo sieht man politische Klugheit am Werk, abwägendes Urteil, eben das, was die Alten Phronesis nannten. Man redet nicht miteinander, Andrea Ypsilanti lässt eine unsichere Kantonistin in den Urlaub fahren. Wird irgendwie schon klappen mit der Einstimmigkeit. Wo öffentliche Deliberation unterbleibt, blühen jedoch verdeckte Abreden, Intrigen und Verschwörungen - nicht nur in Wiesbaden. Wenn jetzt dem SPD-Vorsitzenden Führungsschwäche attestiert wird, so liegt deren Ursache nicht im Fehlen einer "harten Hand" eines Zuchtmeisters von der Statur Herbert Wehners, bei dem die Mäuse in Abwesenheit des Chefs es nicht wagen "auf dem Tisch zu tanzen". Was hier zu Tage tritt, ist ein trostloser Mangel an demokratischer, auf Öffentlichkeit gegründeter politischer Kultur.
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