Verfassungsgericht-Auflagen für Online-Razzien: Urteil für Richter nicht umsetzbar
Die Gerichte sehen sich nicht in der Lage, die vom Verfassungsgericht geforderte Kontrolle von Online-Razzien zu leisten. Der Richterbund hält den Arbeitsauftrag für "illusorisch".
BERLIN dpa/afp Die Strafgerichte sind nach Einschätzung von Richterbund und Polizeigewerkschaft nicht in der Lage, die vom Bundesverfassungsgericht geforderten strengen Kontrollen von Online-Durchsuchungen zu leisten. Der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Christoph Frank, sagte der "Neuen Osnabrücker Zeitung": "Die Ermittlungsrichter sind schon heute teilweise bis an die Schmerzgrenze belastet. Es wäre illusorisch zu glauben, dass sie künftig auch noch die riesigen Datenmengen sichten könnten, die bei Online-Durchsuchungen in Deutschland anfallen würden."
Karlsruhe verlangt, dass die heimliche Ausspähung privater Computer mit strengen Verfahrensvorschriften flankiert wird. Ein Richter muss die Online-Razzia genehmigen, zudem wird ein Ermittlungsrichter, Staatsanwalt oder anderer Beamter die kopierten Dateien im Nachhinein auswerten müssen, um miterfasste höchstpersönliche Daten herauszufiltern. "Wenn die Justiz das zusätzlich leisten soll, muss die Politik sie dazu auch in die Lage versetzen", forderte Frank. Derzeit würden in Deutschland aber 4000 Richter und Staatsanwälte fehlen. "Die Länder und der Bund müssten daher schon kräftig in die Gerichte investieren."
Ähnlich äußerte sich in derselben Zeitung der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Konrad Freiberg: "Wenn Gerichte bei Online-Durchsuchungen zur Kontrolle dazwischengeschaltet werden sollen, dann müssen dafür ausreichend Richter bereitgestellt werden." Gerade bei Ermittlungen gegen Terrorverdächtige sei Eile geboten, die Auswertung kopierter Daten müsse also zügig erfolgen.
In der "Braunschweiger Zeitung" mahnte Freiberg eine rasche gesetzliche Regelung an und warnte vor einem erneuten Streit in der Koalition. Es sei von Union und SPD ohnehin fahrlässig gewesen, das entsprechende BKA-Gesetz so lange zu verzögern. "Man hätte es längst verabschieden können, dann bräuchte man es jetzt nur um die Befugnis zur Online-Durchsuchung zu ergänzen." Freiberg vermutet, das Online-Durchsuchungen nach den Auflagen des Gerichts nur in sehr wenigen Fällen möglich sein werden. Dennoch brauche die Polizei die Befugnisse im Anti-Terror-Kampf.
Der Deutsche Anwaltverein sieht im Karlsruher Urteil eine Absage an die Gesetzespläne von Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) für das Bundeskriminalamt (BKA). Präsident Hartmut Kilger sagte dem "Reutlinger General-Anzeiger": "Wolfgang Schäubles Pläne sind nicht unmöglich geworden, aber sie lassen sich jetzt deutlich schwerer durchsetzen." Das Gesetz sei nicht wie geplant umsetzbar. "Auch Schäuble wird beachten müssen, dass das Bundesverfassungsgericht die Online-Durchsuchung nur dann erlaubt, wenn - und darauf kommt es an - überragend wichtige Rechtsgüter betroffen sind."
Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Renate Künast begrüßte das Urteil als unmissverständliches Signal. "Der Kern der Privatsphäre muss auch im digitalen Zeitalter geschützt bleiben", sagte sie der "Frankfurter Rundschau". Der Versuch der großen Koalition, Online- Durchsuchungen jetzt per BKA-Gesetz zu legitimieren, verstoße "eklatant gegen den Geist des Verfassungsgerichts-Urteils".
Die Koalition will die Online-Durchsuchungen nun rasch regeln. "Wir sind uns einig, dass wir auf dieser Grundlage sehr zügig einen Regierungsentwurf erstellen werden", sagte Schäuble am Mittwoch. Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) forderte eine Beachtung der Karlsruher Vorgaben. Das Verfassungsgericht hatte hohe rechtliche Hürden für Online-Durchsuchungen gesetzt.
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) kündigte an, noch vor dem Sommer ein Gesetz einzuführen. "Das Bundeskriminalamt braucht die Befugnis zur Online-Durchsuchung. Wir benötigen dieses Instrument aber auch auf Landesebene für den Verfassungsschutz und die bayerische Polizei", sagte Herrmann der "Passauer Neuen Presse". "Deshalb werden wir in unseren Gesetzentwurf die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts einarbeiten. Das kann innerhalb der nächsten vier Wochen problemlos erfolgen." Herrmann wies datenschutzrechtliche Bedenken gegen entsprechende Pläne zurück.
Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, geht nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Online-Durchsuchungen davon aus, dass diese nur sehr selten angewandt werden. Das Bundesverfassungsgericht habe "sehr hohe Hürden" formuliert, sagte Schaar dem "Kölner Stadt-Anzeiger": "nur bei konkreten Gefahren für Leib, Leben und andere Rechtsgüter, nur bei konkreter Beschreibung des Zugriffs und nur mit Richtervorbehalt". Das sei eine "sehr hohe Messlatte", über die "man erstmal rüberkommen" müsse.
Schaar betonte, falls eine gesetzliche Befugnis geschaffen werden sollte, dann müsste diese den Vorgaben folgen - diese allerdings seien so eng, "dass es nur sehr wenige Online-Durchsuchungen geben könnte", betonte er: "Das muss sehr gezielt gegen Schwerverbrecher und Terroristen eingesetzt werden und unter scharfer richterlicher Kontrolle."
Der Vorsitzende des Bundestags-Innenausschusses, Sebastian Edathy (SPD), sagte der Zeitung: "Wir sprechen über eine einstellige, nicht über eine zweistellige Zahl pro Jahr." Es handle sich nicht um eine "Massseninstrument, sondern ein Instrument unter vielen anderen". Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) habe "eindeutig weitergehende Vorstellungen gehabt", dem allerdings sei "ein Riegel vorgeschoben worden". "Ich begrüße das", fügte Edathy hinzu.
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