Verfassungsbeschwerde gestartet: "Zensursula" vor Gericht
Im Sommer 2009 mobilisierten die Netzsperren eine neue, digitale Bürgerrechtsbewegung. Nun haben Bürgerrechtler Verfassungsbeschwerde eingelegt.
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Seit einem Jahr ist das "Zugangserschwerungsgesetz" zur Sperre von Webseiten mit kinderpornografischen Inhalten in Kraft. Wegen eines Koalitions-Kompromisses zwischen FDP und Union verzichtet das Bundeskriminalamt (BKA) derzeit jedoch darauf, die deutschen Provider zur Sperre von Webseiten zu zwingen. Bürgerrechtlern ist dies nicht genug: sie wollen das Gesetz jetzt vor dem Bundesverfassungsgericht kippen.
Vier Beschwerdeführer bietet der Arbeitskreis gegen Internet-Sperren und Zensur (AK Zensur) auf, um nun vor dem obersten deutschen Gericht gegen das Gesetz vorzugehen: Florian Walther, IT- Sicherheitsberater und Blogger, die Netzkünstlerin und Professorin für Neue Medien Olia Lialina sowie zwei Mitglieder der Enquête-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des Deutschen Bundestages: Software-Entwickler Alvar Freude und Netzaktivist padeluun.
Thomas Stadler, Rechtsanwalt und Fachanwalt für IT-Recht, erklärt: "Das Zugangserschwerungsgesetz ist offenkundig nicht verfassungskonform, und zwar sowohl aus formalen als auch aus inhaltlichen Gründen." So habe der Bund überhaupt nicht die Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz in diesem Bereich, das Gesetzgebungsverfahren sei massiv fehlerbehaftet gewesen. Vor allem aber sei das Gesetz sinnlos: "Das Gesetz ist nicht geeignet, den erhofften Zweck – die Verringerung von Zugriffen auf kinderpornographische Inhalte – zu erreichen."
Zwar sind bereits in vielen europäischen Ländern Websperren in Kraft, ob die Maßnahme irgendwo eine Verringerung des Kindesmissbrauchs oder auch nur eine Abnahme der Verbreitung von Missbrauchsbildern bewirken konnte, wurde nie untersucht. Theoretisch können die Sperrlisten sogar als Wegweiser zu illegalen Inhalten dienen. Zahlreiche der geheimen Listen wurden zum Beispiel auf der Plattform Wikileaks veröffentlicht.
Verfassungsbeschwerde gegen "Zensurinfrastruktur"
Die Bürgerrechtler wollen mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die Etablierung einer "Zensurinfrastruktur" vorgehen. "Besonders bedenklich ist dabei, dass die Entscheidung darüber, ob statt anderen Maßnahmen eine Sperre von Internetseiten durchgeführt wird, einzelne Beamte des BKA fällen", kritisiert Stadler. Lediglich ein Aufsichtsgremium, das beim Bundesdatenschutzbeauftragten Peter Schaar angesiedelt sein soll, sollte die Richtigkeit der Maßnahmen stichprobenartig überprüfen.
Alvar Freude, Mitgründer des AK Zensur und Beschwerdeführer, kritisiert die Bundesregierung: "Obwohl sich jüngst auch der CSU-Netzrat gegen Sperren ausgesprochen hat und die FDP-Fraktion sich schon seit 2009 für das Entfernen kinderpornographischer Webseiten einsetzt, beharren führende Politiker der CDU weiter auf den gefährlichen Internet-Sperren." Offiziell ist das Gesetz in einer Evaluierungsphase, nur Teile finden derzeit Anwendung. So müssen sich die BKA-Beamten derzeit darauf beschränken, gefundene Seiten direkt an der Quelle löschen zu lassen. Ein mühsames Geschäft: die meisten Fälle sind im Ausland, meist in den USA. Der Arbeitskreis Zensur hat aus den australischen, finnischen und den Sperrlisten aus der Schweiz eine Übersicht (PDF) erstellt, auf der sich die Herkunft kinderpornografischer Seiten nachvollziehen lässt.
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Wie gut das funktioniert, ist umstritten. So verweist die Internet-Beschwerdestelle auf eine Erfolgsquote von 99,4 Prozent bei der Löschung von ausländischen Seiten mit kinderpornografischen Inhalten, BKA-Präsident Ziercke drängt jedoch weiter darauf, Inhalte für deutsche Internetnutzer sperren zu lassen.
Ob die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht zugelassen wird, ist unsicher. "Es gibt auch Juristen, die der Meinung sind, dass eine Beschwerde von normalen Nutzern oder Content-Anbietern derzeit nicht zulässig ist", erklärt Stadler. Einen Provider, der die Sperrmaßnahmen durchführen müsste und daher direkt betroffen wäre, konnte der AK Zensur nicht für die Klage gewinnen.
Auch der "Nichtanwendungserlass" verhindert, dass die Beschwerdeführer eine direkte Betroffenheit nachweisen. Wie dieser Erlass genau aussieht, ist jedoch geheim. Das Bundesinnenministerium lehnte Stadlers Antrag auf Einsichtname ab: das Papier sein ein verwaltungsinternes Dokument und könne deshalb nicht zur Verfügung gestellt werden.
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