Verdi kritisiert Arbeitsbedingungen: Mehr Psycho vom Netto
Unbezahlte Überstunden, systematische Schikane – so manchem Netto-Angestellten bleibt nur der Weg in die Psychiatrie. Der Konzern bestreitet das.
GÖTTINGEN taz | Gleich reihenweise würden die Angestellten der Discounterkette Netto, die zu Edeka gehört, durch die schlechten Arbeitsbedingungen in die Psychiatrie getrieben, sagt Katharina Wesenick. Sie ist Sekretärin für den Bereich Handel der Gewerkschaft Verdi in Südniedersachsen.
Allein in ihrem Zuständigkeitsbereich befinden sich derzeit vier Mitarbeiterinnen in psychiatrischer Behandlung. Ihre Liste der Kritik an dem Lebensmitteldiscounter ist lang: unbezahlte Überstunden, keine Pausen, systematische Schikane, Verstöße gegen Arbeitsschutzgesetze, Unterbezahlung, Überlastung der Angestellten.
ArbeitnehmerInnen bestätigen die Vorwürfe. "Ich wurde ignoriert oder angeschrien, auch vor Kunden", sagt Netto-Mitarbeiterin Angelika O.*. Mit Brechreiz und Durchfall sei sie zur Arbeit gegangen, bis sie nicht mehr konnte. Jetzt ist sie krankgeschrieben. "Die wollen die alten Plus-Mitarbeiter rausekeln, weil wir mehr Geld verdienen", vermutet O.
Vor zwei Jahren hat Netto die Filialen des Discounters Plus übernommen, zusammen mit den Angestellten, in deren Arbeitsverträgen ein höheres Gehalt festgeschrieben war. "Wir kündigen euch nicht", hat laut O. ein Vorgesetzter zu ihr gesagt. "Wir kriegen euch auf andere Weise raus." Mobbing sei für diese MitarbeiterInnen tägliche Erfahrung.
Pause nehmen trauen sich viele nicht mehr
"Wir haben alle Unmengen an Überstunden", sagt die Netto-Angestellte Maria K.* aus Südniedersachsen. "Es sieht fast überall genauso aus." In den Filialen arbeiteten meist nur zwei Angestellte, die die ganze Verantwortung tragen. Die Arbeitszeit vor und nach Ladenschluss werde nicht bezahlt, das ist jeden Tag eine Dreiviertelstunde, bei manchen auch viel mehr. Sich Pausen nehmen trauten sich viele Angestellte nicht mehr. "Es wird sehr viel mit Druck gearbeitet", sagt K.
Angelika O. kennt Ähnliches: "Die Arbeit ist nicht zu schaffen", sagt sie. Sogar ihr Ehemann habe ihr bei der Arbeit geholfen. Sie klagt über psychische Probleme und über Rückenschmerzen. Die hat sei, weil sie jahrelang allein schwere Europaletten stapeln musste, vermutet sie. Und weil die Stühle hinter den Kassen bei Netto "eine Katastrophe" seien.
Bundesweit arbeiten über 70.000 Angestellte bei Netto, davon nach Verdi-Angaben etwa 30.000 Aushilfen als geringfügig Beschäftigte. Diese bekommen seit 1. April einen internen Mindestlohn von 7,50 Euro in der Stunde. Der Discounter unterlaufe trotzdem systematisch die Tarifbestimmungen, sagt Verdi. Denn nach dem Tarifvertrag des Einzelhandels, der bei Netto seit Mai 2010 gilt, stünden vielen Beschäftigten 13 Euro in der Stunde zu, sie erhielten aber oft nur den Mindestlohn.
Arbeitsrechtler: "Diskriminierung aufgrund von Teilzeitarbeit"
"Das ist Diskriminierung aufgrund von Teilzeitarbeit, und das ist nicht erlaubt", sagt der Hamburger Arbeitsrechtler Jens-Peter Hjort. Zu prüfen sei, ob es sich dabei sogar um eine Straftat handele. In einem ähnlich gelagerten Fall verurteilte das Stuttgarter Landgericht das Ehepaar Schlecker bereits 1998 wegen Betrugs.
Solche Verstöße sind allerdings schwer zu beweisen. "Die Position der Arbeitnehmer ist so schlecht, dass sie gar nicht bis zu den Arbeitsgerichten durchkommen", sagt ein Arbeitsrichter. Vor Gericht gebe es höchstens Aussicht auf einen "billigen Vergleich", meist würden die Verfahren jedoch eingestellt. Anwalt Hjort würde dennoch prüfen, ob er helfen kann. Er sagt aber: "400-Euro-Kräfte gehen typischerweise gar nicht zum Anwalt, weil sie nicht den Impetus haben oder die Hürden zu hoch sind." Ein grundsätzliches Problem sei auch, dass sich der Staat "aus der Kontrolle der Arbeitsbeziehungen verabschiedet" habe, sagt Hjort. Kein Arbeitgeber müsse mehr mit ernsthaften Kontrollen rechnen.
Netto weist die Vorwürfe zurück
Netto weist die Vorwürfe zurück. Mobbing "widerspricht unseren zentralen Richtlinien", sagt Unternehmenssprecherin Christina Stylianou. "Netto Marken-Discount legt sehr großen Wert auf einen fairen und offenen Umgang mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie selbstverständlich auf die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben." Überstunden würden vergütet, Pausenzeiten eingehalten, Löhne befänden sich "grundsätzlich" auf Tarifniveau oder darüber. MitarbeiterInnen könnten sich an "interne Ansprechpartner" wenden, wenn gegen diese Richtlinien verstoßen werde.
Die Arbeitsbedingungen sind nach Gewerkschaftsangaben bei den Netto-Konkurrenten nicht unbedingt besser. "Bei Netto konzentriert sich das", sagt Gewerkschafterin Wesenick. "Aber letztlich ist das eine Zusammenfassung der Arbeitsbedingungen im deutschen Einzelhandel."
* Namen geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Scholz fordert mehr Kompetenzen für Behörden