Verdi – Gewerkschaft von gestern : Mehr Lohn, weniger Zukunft?
Verdi will zehn Prozent Lohnerhöhung im öffentlichen Dienst. Klingt plausibel, ist aber zukunftsvergessen.
Von UDO KNAPP
taz FUTURZWEI, 31.01.2023 | „Die Belegschaften werden sich in dieser Tarifrunde nicht mit warmen Worten abspeisen lassen“, kündigt Verdi-Chef Frank Werneke an. 10,5 Prozent mehr im Monat werden gefordert, mindestens aber 500 Euro mehr auf dem Konto jedes der etwa 2,5 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst bei einer Laufzeit von zwei Jahren. Die erste Verhandlungsrunde ist gescheitert, im Februar soll weiterverhandelt werden.
Die Begründungen für so hohe Forderungen sind nachzuvollziehen, zugleich aber irritierend. Da sind die Inflation von zuletzt etwa 10 Prozent, die stark steigenden Miet-, Energie- und Heizkosten, die hohen Belastungen des öffentlichen Dienstes in den Krisenmodi von Corona, Ukraine-Krieg und Energiewende, die grundsätzliche und durch die demographische Entwicklung noch beschleunigte Personal-Unterausstattung des öffentlichen Dienstes, die zu immer höheren Arbeitsbelastungen und Qualitätsverlusten geführt haben. Es stimmt auch, dass ausbleibende Lohnerhöhungen zu Reallohnverlusten führen werden.
Solche und ähnliche Fakten sind im Alltag gewohnter Verteilungsungerechtigkeiten nicht neu. Sie haben, zum Beispiel, im Februar 1974 zu einem erfolgreichen Tarifkampf im öffentlichen Dienst geführt. Die ÖTV hat damals unter ihrem legendären Chef Heinz Kluncker 11 Prozent Lohnerhöhungen durchgesetzt, gegen die Einwände des Bundeskanzlers Willy Brandt (SPD) und seines Innenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP). Damals geschah dies auch zu meiner persönlichen Freude. Heute aber steht diese Logik großer Verteilungskämpfe im Widerspruch zu den Herausforderungen, die die Gesellschaft gerade bewältigen muss.
Die Klimakrise und ihre Eindämmung in globalem Kontext, die Kriege für die Sicherung der demokratischen Freiheiten weltweit bestimmen die politische Agenda. Das wird von den Gewerkschaften bisher nicht zur Kenntnis genommen, beziehungsweise ist nicht handlungsleitend. Ihre Tarifpolitik bekräftigt die Illusion, die von großen Teilen der SPD, CDU und FDP sowieso genährt wird: dass der ökologische und digitale Strukturwandel von Wirtschaft und Gesellschaft an unser aller Leben wenig ändern und niemanden etwas kosten wird. Für verdi scheint es selbstverständlich, dass die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes beteiligt werden müssen, wenn die Einnahmen des Staates, warum auch immer, steigen.
Diese klassische Gewerkschaftspolitik ignoriert, dass in den nächsten Jahrzehnten Milliarden aus den öffentlichen Haushalten gebraucht werden, um die Wirtschaft in der Klimakrise auf erfolgreichen, also ökologischen Kurs zu bringen. Dass sie gebraucht werden, um die öffentlichen Dienstleistungen und den gesamten Sozialstaat demografie- und zukunftsfest aufzustellen, vom Gesundheitssystem über die Renten bis zu den Schulen und den Verwaltungen selbst. Wenn das gelingen soll, sind Steuererhöhungen unausweichlich – und auch beim heute gewohnten Standard des allgemeinen Wohllebens wird es zu Einschränkungen kommen.
Mehr politische Gesamtverantwortung der Gewerkschaften
Wenn dennoch Sicherheit und Zukunftsvertrauen der Bürger in die Politik und die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen gegen alle populistischen Versuchungen erhalten und gestärkt werden sollen, dann hat der öffentliche Dienst eine zentrale strategische Funktion. Er muss mit Rückendeckung der Politik alle öffentlichen Institutionen so organisieren und modernisieren, dass klug geregelte öffentliche Verfahren soziale Sicherheit und Staatsvertrauen für möglichst viele Bürger erhalten und sogar noch befestigen. Von den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes wird in dieser Situation mehr politische Gesamtverantwortung gebraucht, als sie gerade anbietet.
Verdi sei darauf hingewiesen, dass die Gewerkschaften erst in den letzten Jahrzehnten zu einfachen Umverteilungsagenturen degeneriert sind. Sie waren aber von Beginn ihrer Existenz an immer auch politische Kampforganisationen für eine auf breiten gesellschaftlichen Mehrheiten aufgebaute soziale Demokratie. Ohne die Gewerkschaften hätte es niemals eine erfolgreiche SPD gegeben und einen Sozialstaat deutscher Prägung auch nicht. Die Novemberrevolution 1918, die Ausrufung der Republik durch Scheidemann und Liebknecht und die Weimarer Verfassung wären ohne die vorherigen Massenstreiks der Arbeiter und Matrosen gar nicht möglich gewesen. Streiks waren und sind immer auch politische Streiks. Auch in der Bundesrepublik hat es politische Streiks gegeben, obwohl sie nach einigen Urteilen unterer Gerichte eigentlich verboten waren und sind. So sei erinnert an die Streiks 1972 in Nordrhein-Westfalen gegen das von der CDU initiierte Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Brandt wegen seiner Ostpolitik.
Die Gewerkschaften haben bisher weder für sich, noch für ihre Millionen Mitglieder einen politischen Platz in der großen Transformation gefunden. Dabei könnten sie ihre gesellschaftliche Macht und auch ihre Tarifhoheit nutzen, um gemeinsam mit ihren Mitgliedern den ökologischen Wandel mitzugestalten.
Konkret könnte das in der aktuellen Tarifrunde so aussehen: Verdi verzichtet auf Lohnerhöhungen auf allen Gehaltsstufen oberhalb des Entgeltniveaus des mittleren Dienstes. Man formuliert im Gegenzug dazu konkrete Forderungen für den digitalen Umbau und die personelle Aufstockung der Verwaltung. Zusätzlich werden grundsätzliche Positionen, etwa die Reform des Gesundheitswesens und die Sicherung der Renten im demographischen Wandel in die Verhandlungen eingebracht. Sogar Streiks für die Durchsetzung solcher Ziele wären vom Grundgesetz durchaus gedeckt. Verdi könnte sich bei einem solchen Vorgehen der Unterstützung ihrer Mitglieder und großer Teile der Gesellschaft sicher sein.
Für 10 Prozent und mehr Gehalt zu streiken, und zwar zu Lasten der Zukunftsinteressen aller Steuerbürger, dafür wird es in der politischen Öffentlichkeit kein Verständnis geben. Solche Forderungen befeuern nur die politischen Vorurteile über die Selbstbedienungsmentalität der ohnehin ungeliebten und ineffizienten Bürokraten in ihren Amtstuben und die allgemeine Staatsverdrossenheit.
UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.