: Verbale Zumutungen
■ betr.: „Ehrlichkeit und Fleiß“ (Ro man Herzogs zweite große Grund satzrede), taz vom 6.11. 97
Nach dem „Ruck“ in seiner vorangegangenen Berliner Rede verordnete Roman Herzog nun mit seinem Gerede zur Bildungsreform endlich auch das schon lang ersehnte ideologische Fundament einer „Ruck“-kompatiblen Orientierungsdisziplin für einen bislang scheinbar nur uneffektiven, irrationalen, ja fast schon verwahrlosten „deutschen“ Bildungsidentitätsfindungsprozeß.
Mit diesem sowie mit der willigen Zustimmung seiner Akteure soll ein weiterer irrationalistischer Umbauprozeß des Bildungssystems als Garant gesellschaftlichen Status Quos und an den – ihm scheinbar wehrlos ausgesetzten – Bürgern/Bürgerinnen exekutiert werden.
Dabei hätte man prinzipiell durchaus erwarten können, daß ein mündiges, bildungstheoretisch kompetentes Elitepublikum – wie das in der Berliner Universität – in der Lage wäre, Herzog ein eindimensionales intellektuelles Elend im Gebrauch seines formbestimmenden Bildungsbegriffes zu attestieren. Es hätte damit zugleich Herzogs verbalen Zumutungen in der Form neoliberalistisch-ökonomistischer Attacken auf das Bildungssystem und seinen Bemühungen um eine sehr begrenzte, strukturfunktionale und verzweckungsideologische Rahmung des Bildungsbegriffes, mit der man menschliche Bildungsprozesse zu vergewaltigen sucht, eine definitive Absage erteilen können.
Statt dessen beklatschten diese intellektuellen Zustimmungsfunktionäre, welche wahrscheinlich auch noch zu diesem Zwecke – und das meist 1968 – auf den jetzt wackelnden Ordinarienstühlen Platz nahmen, das herrschaftliche Bemühen, Bildungsprozesse unter selbstdefinierte, bildungspolitische Notwendigkeiten eines sich globalisierenden Totalisierungsprozesses von Kapitalverhältnissen zu subsumieren.
Es bedarf schon einer extremen Paralysierung kritischen Bewußtseins, wenn man nicht erkennen kann, daß die Transformation und Reproduktion dieses gesellschaftspolitischen Prozesses und das Festhalten am gesellschaftlichen Status Quo doch nur noch durch einen politisch-ideologisch geschulten, eingeübten und eingebildeten, willig vorauseilenden Anpassungsgehorsam der Bürger/Bürgerinnen an diesen legitimiert werden kann.
Die gegenwärtigen politischen Ausgestaltungsversuche der bundesrepublikanischen Bildungsverzweckungen haben daher allerdings mit den einst aufklärerischen bildungspolitschen Intentionen, das heißt der Heranbildung und Wertschätzung mündiger Bürger/ Bürgerinnen als tragende demokratische Orientierungen in einem Gemeinwesen, jedoch absolut nichts mehr zu tun. [...] Christian Rohde, Wuppertal
Abgesehen davon, daß wir keine „erzieherische Rede“ benötigen – denn wodurch hätte Herzog sich als unser Erzieher qualifiziert? –, macht der Präsident zwei entscheidende Fehler: er setzt im deutschen Bildungswesen dieselben Bedingungen voraus, die zu seiner eigenen Schul- und Studienzeit geherrscht haben, und er verwechselt öfter Bildung mit Ausbildung.
„Bildung“ kann eine Universität nicht mehr vermitteln, wenn sie ein riesiger Moloch mit Zehntausenden Studenten ist. Gute Schüler fördern und an das Studium – womöglich gar das richtige – heranführen, kann ein Gymnasium nicht mehr, wenn die Hälfte jedes Jahrgangs Abitur macht. In der Brandt- Ära hieß es halt „Bildung für alle“ – will Herzog das denn rückgängig machen? Vielleicht glaubt er, mit der Bildungspolitik der Siebziger sei die Politik gemeint, die Leute seines Alters machen. Wir können froh sein, wenn die Unis wenigstens gute Ausbildungsmaschinen bleiben.
Natürlich enthält die Rede viel Richtiges, aber keine einzige neue Idee. Englisch in der Grundschule, mehr Praxisbezug, Entrümpelung der Studiengänge, Nichtbeamte als Lehrer – all das wird seit Jahren, teils seit Jahrzehnten immer wieder durchgekaut. Leider ist das Bildungswesen der wirklichkeitsfremdeste Teil der deutschen Bürokratie, und daran wird Herzog nichts ändern. Lachnummern wie Mengenlehre, Ganzwortmethode oder die Rechtschreibreform hätten ihm das sagen müssen.
Traurig auch, daß Herzog dem Bildungswesen die Vermittlung von „Verläßlichkeit, Pünktlichkeit (...), Respekt vor dem Nächsten und die Fähigkeit zur menschlichen Zuwendung“ auferlegen will. Mir haben das meine Eltern vermittelt. Haben die Kinder heute keine mehr? Norbert Wingender, Kalrsruhe
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