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Vierte Wand

Bilder aus den Filmen „Eyes Wide Shut“ und „Tatsächlich… Liebe“ Foto: Warner/imago

Weihnachten heißt Konsum: nicht nur von Geschenken, Essen und Glühwein, sondern auch Konsum der immer gleichen Filme. „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, „Der Grinch“, „Ist das Leben nicht schön?“ Jede Familie hat einen festen Weihnachtsfilm – unserer ist „Tatsächlich… Liebe“ (2003).

Der Film hat alles, was eine Weihnachtsschnulze braucht: die unmögliche erste Verliebtheit eines Jungen, dessen Mutter an Krebs starb. Ein alternder Rockstar, der erkennt, dass die Liebe seines Lebens sein hässlicher Agent ist. Oder zwei Softporndarsteller, die sich ineinander verknallen, während sie nackt und unbehaglich am Set smalltalken. Und dann ist da noch die tragische Emma Thompson, die während eine Joni-Mitchell-CD „Both Sides Now“ spielt, weinend im Schlafzimmer steht und streng ihre Bettdecke glattstreicht, als sie realisiert, dass ihr Mann auf seine Sekretärin steht.

Ich habe „Tatsächlich… Liebe“ mindestens zwanzigmal gesehen. Das schreibe ich nun öffentlich, um mich in die Verantwortung dafür zu nehmen, in Zukunft weniger Zeit zu verbringen mit den kitschigen, sich überlappenden Erzählbögen, den noch kitschigeren Dialogen, den flachen Charakteren und mit all den anderen lieblichen Abscheulichkeiten, die so ein Feelgood-Film eben mit sich bringt.

2025 ist mein erstes „Tatsächlich… Liebe“-freies Jahr seit Langem. Und ich scheine nicht die einzige zu sein, die genug hat von der immer gleichen Geschichte oder von den Hallmark-Feiertagsfilmen, die etwa Netflix oder Amazon herauspumpen – und gegenüber denen „Tasächlich… Liebe“ nicht konkurrenzfähig ist, was Kitsch angeht. Letzterer wirkt dagegen wie ein tiefgründiges Independent-Juwel.

Auf der Suche nach neuen Weihnachtsklassikern

Immer mehr Cineastenhipster versuchen, Alternativen zu sammeln, Filme, die zwar weihnachtliche Gefühle auslösen, jedoch nicht „Kevin – Allein zu Haus“ oder „Der kleine Lord“ heißen. Die Geschichte einer lesbischen Affäre, „Carol“ von Todd Haynes, spielt zum Beispiel wunderbar mit weihnachtlichen Motiven, ohne dass einen ein Feiertagsplot dabei anschreit. Sicher gehört auch „Die Nacht des Jägers“ von 1955 dazu, ein Film, der zwar von einem Psychokiller handelt, jedoch mit einer weihnachtlichen Note endet.

„Vielleicht könnte man den ansehen, wenn man seine Mutter davon überzeugen will, sich scheiden zu lassen“, sagte eine Freundin, als wir über „Eyes Wide Shut“ als neuen potenziellen Weihnachtsklassiker diskutierten und uns die Familie vorm Fernseher vorstellen. Kubricks Erotikthriller spielt in der Weihnachtszeit und passt so zumindest ästhetisch: Christbäume schmücken jedes Interieur und die Darsteller_innen werden fast überall hin von Weihnachtsbeleuchtung verfolgt.

Der Film handelt von sexuellen Fantasien in einer Ehe, besonders der der Frau (Nicole Kidman) und davon, welche Kränkung der Mann (Tom Cruise) empfindet, als er davon erfährt. Ein solches Maß an Kränkung, dass seine Reaktion darauf ist, an einer Orgie, organisiert von einer sektenartigen Elite, teilzunehmen – vielleicht passt das etwas zu gut in die derzeitige Nachrichtenlage.

Es ist festlich, dem paranoiden Tom Cruise dabei zuzusehen, wie er ein Kostüm für die Sexparty kaufen will oder wie er von einem Mann im Trenchcoat verfolgt wird, ominöse Klaviermusik im Hintergrund und die New Yorker Straßen getränkt ins bunte Licht der Weihnachtsbeleuchtung. Das erwärmt mein Herz dieses Jahr mehr, als Rowan Atkinson zum einundzwanzigsten Mal beim Geschenkeverpacken zuzuschauen.

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