VORSCHLAG ZUR GÜTE: Arbeitsplatz-Umwelt-Dilemma
■ Wie die „Beschäftigungserpressung“ die ökologische Sanierung stört
Mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Kommandosystems gingen den Bürgerinnen und Bürgern in der DDR viele Sicherheiten verloren. Eine davon war die des Arbeitsplatzes. Millionen genossen quasi die Vorzüge eines unkündbaren Beamtenverhältnisses. Und mehr noch: Mit dem Arbeitsplatz waren eine Reihe zum Teil nützlicher Zusatzfunktionen verknüpft. Ganztägige Kinderbetreuung, ärztliche Versorgung, garantierte Ferienplätze, betrieblich organisierte Freizeitgestaltung waren die Kennzeichen einer in höchstem Maße arbeitszentrierten Gesellschaft. Die Angewiesenheit auf den Arbeitsplatz gilt in der ehemaligen DDR genauso wie in Polen, der CSFR oder Ungarn.
Dem wird nun die Grundlage entzogen. Die vertrauten Garantien sind plötzlich weggefallen, was für all jene besonders schlimm ist, die in den Zentren sozialistischer Industrialisierung, in den Monostrukturen von Braunkohletagebau, Chemieindustrie oder Stahlwerken beschäftigt sind.
Parallel zu den sozio-ökonomischen Problemen der Neuordnung, werden Tag für Tag weitere Umweltkatastrophen bekannt. Als Folge jahrzehntelanger Anstrengungen der sozialistischen Staaten, sich vor allem nach der Ölkrise von westlichen Rohstoffquellen unabhängig zu machen, muß man heute in einigen Gebieten Ostmitteleuropas den ökologischen Notstand erklären. Veraltete Technologien und Vorkriegsanlagen führten zu unvergleichlichen Schäden für Umwelt und Menschen. Und wieder trifft es die Bevölkerung in den industriellen Zentren besonders hart, die unkontrollierte Mengen an schwefelhaltigen Braunkohleabgasen oder quecksilberverseuchten Chemiedämpfen einatmen.
Unselige Allianz zwischen Arbeiter und Industrie
Was tun? Zum Abwarten ist keine Zeit. Die Umweltbelastungen müssen rasch gestoppt werden. Mit staatlichen Auflagen könnte den größten Dreckschleudern ein schnelles Ende bereitet werden. Die Situation würde sich entspannen und auch den Menschen könnte es ohne die mörderische Luftverpestung und Trinkwasserverseuchung bald etwas besser gehen. Aber ohne Braunkohlekraftwerk keine Arbeit, ohne Arbeit kein Geld, ohne Geld...
Jeder Politiker, der eine umweltpolitische Entscheidung fällen muß, die negative Konsequenzen für die Zahl der Arbeitsplätze erwarten läßt, sitzt in der Zwickmühle. Die umweltpolitisch sensibilisierte Öffentlichkeit erwartet rasche Aktionen zur Verbesserung der Lage. Aber die betroffenen Arbeitnehmer wissen, an wen sie sich halten müssen, wenn ihr Betrieb aus Gründen des Umweltschutzes geschlossen wird. Die verantwortlichen Politiker setzen die Leute auf die Straße, nicht der Unternehmer. Der würde ja produzieren und den „Aufschwung Ost“ vorantreiben. Wenn die Betroffenen die politische Verantwortung für den Verlust ihres Arbeitsplatzes erkennen, haben sie Sanktionen in der Hand. Die reichen von wachsender öffentlicher Kritik an der Regierung bis zur Quittung bei der nächsten Wahl. Vor solchen Konsequenzen kann kein Politiker sicher sein. Fürs politische Überleben sind die Arbeitsplätze dann doch meistens wichtiger als der Umweltschutz.
Politische Probleme brauchen politische Lösungen
Wir kennen diesen Zirkel auch aus westlichen Industriestaaten, und man sollte nicht so tun, als ob die Unternehmen hier inzwischen alle auf dem Pfad der ökologischen Tugend wandeln würden. Es mag ja akzeptiertes Wissen sein, daß nur ökologische Arbeitsplätze sichere Arbeitsplätze sind, wie SPD und Gewerkschaften unermüdlich predigen. Wenn es darauf ankommt, und das heißt, wenn ein Unternehmen sich ökologischen Standards anpassen oder gar unterordnen soll, wird sofort das „Totschlagsargument: Arbeitsplätze“ genannt.
Gewerkschafter wie IG-Chemie- Chef Rappe sind dann schnell zur Stelle und warnen vor „falsch verstandenem Umweltschutz“, der Arbeitsplätze koste. So geschehen bei Boehringer in Hamburg, und bei der Ansiedlung von Mercedes Benz in der Nähe der Rastatter Rheinaue. In der ehemaligen DDR wird es nicht anders sein.
Das Dilemma zwischen der Sicherung von Arbeitsplätzen und dringend notwendigen Umweltschutzmaßnahmen ist ein politisches Problem. Es sollte politisch gelöst werden — sozialpolitisch. Der Verlust des Arbeitsplatzes muß den betroffenen Arbeitnehmern materiell erträglich gemacht werden. Notwendig sind sozialpolitische Puffer, großzügige Entschädigungen für den Verlust des umweltverschmutzenden Arbeitsplatzes. Die Stillegung einer Dreckschleuder darf für die Beschäftigten nicht den politisch verantworteten, individuellen Ruin bedeuten. Wenn diese Trennung gelingt, dann gewinnt Umweltpolitik neue Handlungsspielräume, die den Zugriff auf viele untragbare Betriebe im Osten (und im Westen) erlauben.
Eine solche ökologisch orientierte Sozialpolitik ist in ganz unterschiedlichen Formen denkbar. Die Möglichkeiten reichen von alternativen Arbeitsplätzen über ökologisch motivierte Sozialpläne bis zu Entschädigungen in der Art eines garantierten Grundeinkommens. Dabei muß bedacht werden, daß diese Varianten Mißtrauen bei all jenen Arbeitnehmern hervorrufen können, die nicht in den Genuß von „maßgeschneiderten“ Kompensationen kommen. Ihr Argwohn wäre verständlich, wenn sie „ganz normal“ arbeitslos geworden sind und deshalb nicht mit kostspieligen Sonderprogrammen umsorgt werden. Das heißt, Politik muß sich auf der Suche nach Lösungen des Arbeitsplätze-Umweltschutz- Konfliktes immer auch um die Frage der breiten Akzeptanz kümmern.
Die Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen wäre die einfachste Lösung des Dilemmas. Alle ökologisch nicht vertretbaren Jobs werden gestrichen, statt dessen wird „sauberes“ Gewerbe angesiedelt. Leider zeigt die Erfahrung, daß Alternativarbeitsplätze nicht wie Pilze aus dem Boden schießen, wo und wann man sie braucht. Politische und finanzielle Anreize bieten keine Garantie dafür, daß Arbeitsplätze entstehen, die in Zahl und Qualifikationsanforderungen den vernichteten entsprechen. Mit Sozialplänen für die Beschäftigten könnten die umweltverschmutzenden Betriebe sofort geschlossen werden, auch ohne daß bereits andere Arbeitsplätze für alle zur Verfügung stünden. Nach der Schließung, mit einer einmaligen Abschlagszahlung in der Hand muß man jedoch befürchten, daß die Arbeitnehmer materiell bald schlechter dran sind als vorher. Die Verklärung des verlorenen Arbeitsplatzes, der Glaube an den Segen einer Beschäftigung und der Zorn auf die Politiker würden stärker, je länger die Suche nach einem neuen Job dauert.
Grundeinkommen als Entschädigung
Sozialpolitische Entschädigungen für den Verlust des Arbeitsplatzes durch Formen von Grundsicherungen oder Grundeinkommen bieten bessere Chancen, der umweltpolitischen Blockade zu entkommen. Grundsicherung oder Grundeinkommen sind eher als Sozialpläne oder Ersatzarbeitsplätze in der Lage, die gerade für osteuropäische Staaten festgestellte, starke Angewiesenheit auf den Arbeitsplatz zu mildern. Die Garantie eines Grundeinkommens könnte den Verzicht auf den individuellen Arbeitsplatz in dem umweltverschmutzenden Betrieb ermöglichen, ohne daß eine andere Beschäftigung unmittelbar vorhanden ist und ohne daß jedes sich bietende Arbeitsplatzangebot akzeptiert werden muß. Materiell so abgesichert, könnten es sich die Betroffenen „leisten“, für Umweltschutz zu sein. Eine solche Freiheit ist auch für die Politiker nicht zu unterschätzen, die Handlungsspielraum für Umweltschutz benötigen.
Entscheidend für den umweltpolitischen Erfolg einer ökologisch orientierten Sozialpolitik ist, die individuelle Abhängigkeit vom konkreten Arbeitsplatz zu lockern. Nur so kann die unheilige Allianz der Arbeitnehmer mit ihren umweltverschmutzenden Arbeitgebern ausgehebelt werden. Sylke Nissen
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