VIELLEICHT INS HEIM : Ganz behütet
Nach dem Fußballspielen war ich wieder guter Laune. Ein komischer Effekt; eigentlich hatte ich ja keine Lust gehabt und mich zwingen müssen, zum Fußball zu gehen, hatte auch ein bisschen lustlos gespielt und danach beim Gehen plötzlich Wadenkrämpfe bekommen. Und dann war ich mit schmerzenden Muskeln eingeschlafen und hatte in diffusen Bildern von Jugend und Sommer geträumt. Glücksgefühle hatten sich angedeutet, ganz behütet hatte man sich im kalten Zimmer unter der Decke gefühlt, und es war sehr schön, sich noch mal umzudrehen und einfach ein wenig weiterzuschlafen, als ob man noch zur Schule ginge und sich entschlossen hätte, die ersten zwei Stunden ausfallen zu lassen. Nun gab es schon lang keine Stunden mehr, die man hätte ausfallen lassen können.
Ich ging die Treppen hinunter. Die Tür einer Wohnung stand offen. Sie war schon leer geräumt. Die Tapeten von den Wänden gerissen. Ein alleinstehender Mann hatte hier gewohnt. Mitte sechzig vielleicht. Immer mit Gehhilfe, sichtlich krank, abgemagert. Er wirkte fragil, hatte sich aber eine ganz gute 60er-Jahre-Eleganz bewahrt. Meist trug er eine schwarze Lederjacke. Vielleicht war er auch mal Junkie gewesen und später dann Trinker, ein frühverrenteter Arbeiter. Ich mochte ihn und hatte mich immer gefreut, wenn wir uns im Treppenhaus begegneten. Bei anderen Mietern war er umstritten, weil er manchmal wohl in der Nacht vergaß, den Fernseher auszustellen. Der Fernsehton war laut, weil er schlecht hörte.
Er war glaube ich schwul. Einmal hatten im Mülleimer jedenfalls schwule Pornos gelegen, und ich hatte das irgendwie mit ihm assoziiert, hatte gedacht, jemand hätte seinen Keller ausgeräumt, aber vielleicht war es ja auch jemand anderes.
Vielleicht war er gestorben, vielleicht auch nur ins Heim gekommen. Draußen war es diesig und wärmer, als ich gedacht hatte. DETLEF KUHLBRODT