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Archiv-Artikel

VIELE IRAKERINNEN KENNEN UND LIEBEN EUROPA. UND WÜNSCHEN SICH AUCH EIN BISSCHEN EUROPA NACH BAGDAD Wo Goldsessel Sinnbild der politischen Klasse sind

VON INGA ROGG

Ganz in der Nähe sind Schüsse zu hören, ein paar kurze Salven. Ungerührt fährt der Fahrer weiter und steuert den Wagen in die Hofeinfahrt. Ein bekannter irakischer Architekt hat ein paar Freunde zu einer Abendgesellschaft mit Hauskonzert eingeladen.

Im Salon riecht es nach Gardenien, an den Wänden hängen Bilder von berühmten irakischen Malern. Die Haushälterin bewirtet die Gäste mit Whisky und Wein, und der betagte Hausherr, ein Gentleman durch und durch, spricht einen Tost aus. Dann greift der Violinist zum Instrument und der Sänger stimmt das erste Makam an, eines der traditionellen Lieder, die auf Gedichten basieren und für die der Irak so berühmt ist. Nach und nach singen die Gäste mit, zwischendurch diskutieren die Gäste, wer der Schöpfer dieses oder jenes Makam ist.

Fast jeder in der Runde hat ein paar Jahre in Europa gelebt: in England, Schweden, Frankreich oder der Schweiz, entweder als Student zur Ausbildung oder als politisch Verfolgter. Sie alle wünschen sich ein Stück Europa für ihr Land: Rechtsstaatlichkeit, gute Schulen und Krankenhäuser, Ingenieurskunst, Konzerthallen und Galerien oder Rechte für die Irakerinnen, wie sie die Schwedinnen haben. Dass in Europa Wahlen stattfinden, nimmt man nur zur Kenntnis. Das Land ist absorbiert von der eigenen Wahl, die am 30. April stattfand. Das Wahlergebnis werden die Iraker aber frühestens Tage nach der Europawahl erfahren. Fest steht allerdings, dass keine Partei so viele Mandate erringen wird, um aus eigener Kraft eine neue Regierung zu bilden. Gleichwohl haben alle Fraktionen mit dem Taktieren begonnen, was mögliche Koalitionen betrifft. Die Öffentlichkeit bekommt davon vor allem eines mit: Bilder von älteren Männern, die in gewichtiger Pose in riesigen Sesseln mit Goldverzierung versinken.

Für viele Iraker sind diese Goldsessel zum Sinnbild ihrer politischen Klasse geworden. Nicht um Programme gehe es den Politikern, sondern darum, möglichst einen der Sessel zu erobern und diesen dann mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, sagt Abu Haider, der im Zentrum der Hauptstadt einen Stand mit Kunstdrucken betreibt. Wie viele wünscht auch er sich ein wenig Europa, vor allem Sicherheit. „In Europa kann man ohne Pass von Land zu Land reisen“, sagt er. „Wir können es nicht einmal in der Hauptstadt.“ Viele der Sprengschutzwände, die vor Jahren noch die Viertel in Bagdad voneinander trennten, sind inzwischen verschwunden. Doch vielerorts kontrollieren Checkpoints die Zufahrten. In etliche Quartiere kommt man mit dem Auto nur noch mit einem Sticker, der beweist, dass man dort wohnt.

Über Politik wird im Salon des Architekten den ganzen Abend so gut wie nicht gesprochen. Stattdessen schwelgen die Gäste in Erinnerungen an das alte Bagdad, untermalt vom mal melancholischem, mal heiterem Gesang und Violinenspiel. Kurz nach dem Dinner ist es Zeit zum Aufbruch. Um 24 Uhr beginnt die Sperrstunde, wer bis dahin nicht zu Hause ist, riskiert, dass er die Nacht im Auto an einem Checkpoint verbringen muss.