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Archiv-Artikel

VERSTÖRENDES BEIM MUTTER-KONZERT, VIELE FRÜHE TORE BEI DER BUNDESLIGA, KNAPP AM KARNEVAL DER KULTUREN VORBEI UND WIEDERHÖREN MIT DEN ACHTZIGERN Wo die Sonne nicht scheint, wo sich niemand freut

VON JENS UTHOFF

Max Müller hat immer noch die beste Frisur von ganz Kreuzberg, wenn nicht von ganz Berlin. Wie ein Readymade taucht sein Schopf auf der Bühne des West Germany auf und wieder ab, und man fragt sich: Wie macht der Mann das, so ganz ohne Toupet? Wie in Stein gemeißelt ragt das braune Haupthaar auf, ein Stück weiter südlich ächzt es aus seinem Mund zu ätzenden Akkorden.

Seine Band Mutter spielt am Donnerstagabend in dem Klub nahe dem Kotti; etwa 150 Leute stehen gedrängt in dem kleinen, schlauchartigen Raum unter vier Ventilatoren, die gegen die Körperausdünstungen ankämpfen – und sich dabei gut schlagen. Mutter-Sänger Max Müller erzählt Geschichten aus dem Leben zu lärmenden Gitarren und einem pumpenden Bass, der durch jede Faser des Betonblocks am Neuen Zentrum Kreuzberg dringt. Nur mit einem Unterhemd in purstem Weiß bekleidet, turnt Müller über die Bühne, stöhnt und schreit und wühlt sich durch das Set der Berliner Postpunk-Legende. Das Konzert ist, wie Mutter-Konzerte so häufig waren: irgendwie großartig. Etwas seltsam. Verstörend.

Richtig hittig wird es nur zur Zugabe, als die vier Herren und die eine Dame das wunderbare „Wo die Sonne nicht scheint“ spielen. Damit geht dieser kurze Konzertabend schon gegen halb zwölf zu Ende: „Wo die Sonne nicht scheint / und der Regen fällt / wo kein Mond die dunkle Nacht erhellt / wo kein Mensch sein will, wo sich niemand freut / wo man besser nicht ist, wo man besser nicht spricht …“

Wo man besser auch nicht ist: im Abstiegskampf. Am Samstag schaue ich mir in der Junction Bar die Konferenz des letzten Bundesliga-Spieltags an, ein unterhaltsamer Nachmittag mit vielen frühen Toren. Es sind einige Stuttgart-Fans da, für die diese Stunden ein Höllenritt mit Happy End werden sollen. Ein Kollege steht neben mir, ebenfalls Stuttgarter, und zappelt nervös bei jeder Schaltung zum Spiel Paderborn gegen den VfB. Ich sage lieber nicht, dass es mir einigermaßen egal ist, ob Stuttgart absteigt. Um viertel nach fünf, als das 2:1 seiner Schwaben feststeht, jubelt er und geht erleichtert nach Hause. Paderborner und Freiburger sind hingegen nicht in der Kneipe. Also nur Gewinner in der Junction Bar.

Den Pfingstsonntag bin ich fast den ganzen Tag draußen; auch die meisten meiner Artgenossen verbringen den Tag an der frischen Luft – ist schließlich Karneval der Kulturen.

Karneval fand ich schon immer fad, egal in welcher Ausprägung. Am Hermannplatz klingt es auch eher nach Ballermann, und es sieht auch so aus. Dafür ist das Tempelhofer Feld angenehm leer; ich laufe eine Runde und genieße die Weite. Am späten Nachmittag dann liege ich in der Hasenheide in der prallen Sonne. Ich höre im Radio die Konferenz der zweiten Bundesliga – und bin erleichtert, dass St. Pauli sich rettet.

Am Abend sitze ich bei meinem Lieblingsitaliener bei Wein und Pizza und überlege, ob ich noch ausgehen soll. Es laufen aber so wahnsinnig tolle, seifige Achtziger-Hits, dass ich noch ein Glas Montepulciano trinke und dazu vor mich hin meditiere. Bei „Vamos a la playa“ muss ich daran denken, wie ich diesen Song, als er aktuell war, mit einem Tonbandgerät aus dem Radio mitgeschnitten habe. Da muss ich vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. Es war die Zeit von Geier Sturzflug, Alphaville und Nena. Die Brillanz des Songs „Vamos a la playa“ verstand ich selbstverständlich erst viel später: Einen Schlager-Pop-Song mit der Hookline „Lass uns zum Strand gehen“ zu schreiben – Wahnsinn.

So bleibe ich dort hängen, höre die 80er-Medley-CD durch, und vor allem von den Texten bin ich angetan: „You take my self / you take my self control“ folgt kurz darauf, ein Song, den man sofort kennt und dessen Interpretin ich mir dann ergoogele: Laura Branigan. Und mit Frau Branigan und der nicht ganz so freiwilligen Selbstkontrolle geht der Sonntagabend dann auch zu Ende.