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Archiv-Artikel

VERNÜNFTIG: DIE GROSSE KOALITION MIT MERKEL OHNE MERKEL-POLITIK Konsens statt Kirchhof

Chaos, Unsicherheit, Blockade – das kann man über Deutschland derzeit überall lesen. Ein Wunder, dass die Züge noch pünktlich sind und die Gehälter überwiesen werden. Immerhin hat die deutsche Qualitätspresse nun den Schuft dingfest gemacht, der an allem schuld ist: Gerhard Schröder.

Lassen wir den Sandkastenkrieg Schröder–Merkel mal beiseite – und reden über Interessen. Das Wahlergebnis lässt politisch nur eine Koalition zu – die von Union und SPD. Aber die wird schwierig. Beide sind fast gleich stark – und haben viel zu verlieren. Die Union noch mehr Wähler an die marktradikale FDP, die SPD noch mehr Traditionssozialdemokraten an die Linkspartei. Die Kernfrage ist nicht, ob Schröder ein Schurke ist. Sie lautet, ob Union und SPD ein Machtgleichgewicht und genug gemeinsame Projekte finden. Für beide ist eine große Koalition ein Risiko. Beide müssen die freigesetzten Fliehkräfte kalkulieren können.

Für eine große Koalition steht dabei einiges auf der Haben-Seite. Faktisch regiert in Deutschland via Bundesrat seit zehn Jahren eine große Koalition. Die Hartz-Gesetze, die Steuerreform, das Zuwanderungsgesetz – all das hat eine große Koalition ausgehandelt. Union und SPD sind es gewohnt, Kompromisse zu finden – in einer Regierung kann dies einfacher und effektiver sein als im Vermittlungsausschuss.

Auch politisch ist die Linienführung absehbar. Die in der Machtblockade zwischen Union und SPD eingeklemmte Föderalismusreform kann schnell über die Bühne gehen. Die SPD wird Merkels Kopfpauschale (die sowieso unpraktikabel ist) mannhaft abwehren – begleitet von einem leisen Stoßseufzer der Erleichterung aus München. Die SPD muss den Außenminister stellen, um Kniefälle in Washington zu verhindern. Und sie braucht ein paar symbolische Siege, etwa beim Kündigungsschutz. Dafür könnte die Union den Kanzler stellen. So könnte ein Kompromiss aussehen.

Diese große Koalition wäre politisch vernünftig, für eine Weile. Sie wird nicht die Ruck-Reform-Regierung, von der die neoliberale Meinungselite träumt und vor der es der Mehrheit graust. Es wäre eine Merkel-Regierung ohne Merkel-Politik. Konsens statt Kirchhof. STEFAN REINECKE