Uwe Tellkamps „Der Turm“ als TV-Film: „Keine Wiedervereinigung“
1.000 Seiten Roman hat Christian Schwochow zu einem Fernsehzweiteiler verarbeitet. Der Regisseur und die Hauptdarstellerin über Träume vor und nach der Wende.
taz: Frau Michelsen, Herr Schwochow, wie ist es Anne Hoffmann und den anderen Figuren aus „Der Turm“ wohl nach der Wende ergangen?
Christian Schwochow: Ich bin da nicht der richtige Ansprechpartner, weil ich schon ein bisschen was weiß über die Fortsetzung, an der Uwe Tellkamp gerade schreibt, zum Beispiel dass Anne Hoffmann in die Politik geht. Ich kann nur sagen: Für ihren Sohn Christian habe ich mir immer gewünscht, dass er nach seiner Armeezeit sofort ein Interrail-Ticket kauft und ein paar Monate durch Europa fährt und die neu gewonnene Freiheit genießt.
Claudia Michelsen: Da musste ich gar nicht groß drüber nachdenken: Für mich war es eigentlich klar, wie es mit Anne weitergeht. Das Einzige, was ich nie zu Ende gedacht habe und auch nie zu Ende denken wollte, ist die Frage, wie die Beziehung zu ihrem Mann Richard weitergeht, ob sie weitergeht. Das Buch lässt das offen, das mochte ich.
Schwochow: Eigentlich wäre es schön, wenn die beiden sich durch die Wende vielleicht noch mal irgendwie …
Michelsen: … wiederfinden. Ja, finde ich auch.
Ist es nicht bemerkenswert, dass wir über Roman- bzw. Filmfiguren so sprechen, als wären sie real?
Claudia Michelsen: 43, spielt die weibliche Hauptrolle in der Uwe-Tellkamp-Verfilmung „Der Turm“ über Dresdner Bildungsbürger in den letzten sieben DDR-Jahren. Ihr Engagement an der Berliner Volksbühne gab sie für Kino- und TV-Rollen auf: „Kanzleramt“, „12 heißt: Ich liebe dich“, „Die Päpstin“, „Das letzte Schweigen“, „Flemming“ u. a.
Christian Schwochow: 34, verfilmte mit „Der Turm“ das erste Drehbuch, das er nicht mit Mutter Heide geschrieben hat, wie „Novemberkind“, seinen Diplomfilm an der Filmakademie Ludwigsburg. 2012 folgte „Die Unsichtbare“. Nach der Ausreise wuchs er in Hannover auf und wohnt heute wieder im selben Haus in Berlin-Prenzlauer Berg wie als Kind.
Michelsen: Das ist das Besondere an der Romanvorlage wie auch an Christians wunderbar unaufdringlichem Film, dass er nicht eine Geschichte schwarz-weiß durcherzählt, sondern der Fantasie viele Türen öffnet.
Schwochow: Wir wollten eben wie auch Tellkamp keine Heldengeschichte erzählen, sondern von Menschen in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Dafür war es wichtig, dass die sechs Figuren aus dem Roman, die im Zentrum des Drehbuchs von Thomas Kirchner stehen, sich von der Vorlage entfernen, ein Eigenleben entwickeln.
Der Film wirkt im Gegensatz zu dem wortgewaltigen Wälzer „Der Turm“ wie hingetupft, mit allen Auslassungen, Leerstellen, die das mit sich bringt.
Schwochow: Der Film sollte ja eine Leichtigkeit haben. Hingetupft, impressionistisch, das sind Begriffe, mit denen ich sehr einverstanden bin. Nicht flüchtig, aber zart.
Wie bringt man so viel Zartheit auf für ein Land, das Ihre Familie verlassen wollte? Nach Ihrem Ausreiseantrag 1988 saßen Sie monatelang auf gepackten Koffern.
Schwochow: Man macht ja keinen Film über ein Land, sondern über Menschen, über Figuren. Und es ist ein Irrglaube, dass man sich nur an das Dunkle und Schwere erinnert. Auch wenn die letzten Jahre der DDR zweifellos von Stillstand geprägt waren, waren die Gespräche im Team über diese Zeit sehr bunt und vital. Ja, es stimmt, meine Familie saß auf gepackten Koffern – aber das hatte auch was unheimlich Positives: Wir waren nie wieder so voller Hoffnungen und Sehnsüchte wie damals.
Inwiefern haben sich Ihre mit der Wende verbundenen Träume und Hoffnungen erfüllt?
Schwochow: Meine Eltern wollten damals nach Kanada auswandern. Das hat sich nie erfüllt, war aber als Sehnsuchtsbild sehr präsent.
Waren Ihre Eltern dann wenigstens mal im Urlaub da?
Schwochow: In Kanada nicht, aber in den USA, mehrmals.
Frau Michelsen, Sie selbst haben immer davon geträumt, nach Paris zu fahren, sich aber nach der Wende drei Jahre Zeit damit gelassen. Warum?
Michelsen: Zum einen war ich nach der Wende viel mit mir selbst beschäftigt. Ich wurde ja über Nacht ohne Gebrauchsanweisung in die freie Marktwirtschaft geworfen – was mir, glaube ich, als jungem, lernfähigem Menschen leichter fiel als 40- oder 50-Jährigen, aber trotzdem eine Menge Stress bedeutete. Und außerdem war der Wunsch, in meine absolute Traumstadt Paris zu fahren, so groß, dass ich dachte: Ich kann da jetzt nicht einfach so hinfahren. Da muss ein Mann dabei sein, den ich liebe. Und dann hat es drei Jahre gedauert, bis ich mich in mein Auto gesetzt habe und hingefahren bin – allein.
Schwochow: Meine Mutter stammt von Rügen, wo auch ich geboren wurde. Und es war seit der Kindheit ihr Traum, eines Tages auf der weißen Fähre, die sie immer am Horizont gesehen hat, nach Schweden zu fahren. Als wir es dann 1990 gemacht haben, war die Enttäuschung riesengroß: Es hat nur geregnet, uns war so langweilig, dass wir gleich weiter nach Norwegen gefahren sind. Die Realität konnte mit dem Traum nicht mithalten.
Und abseits der Reiseträume?
Michelsen: Reisen, alle Meere der Welt sehen, war immer mein Wunsch. Vielleicht habe ich mich damit ein Stück weit auch über die Enttäuschung hinweggetröstet, dass der Traum von einem eigenständigen Staat so schnell zerplatzt ist. Die Wiedervereinigung war wirklich nicht das, was wir Künstler im Umfeld der Volksbühne in Ostberlin wollten. Die Masse hat sich aber anders entschieden. Der Kater, der nach dem Taumel der Wendezeit einsetzte, war schrecklich. Freundschaften zerbrachen, alle waren mit sich selbst beschäftigt, niemand war plötzlich mehr da, wo man ihn vertraut wusste. Auch deswegen bin ich 1994 in die USA gezogen.
Schwochow: Die Hoffnung auf den dritten Weg war Common Sense unter Ostintellektuellen, auch bei meinen Eltern. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass da überhaupt ernsthaft über die Wiedervereinigung nachgedacht wurde. Aber ich war ja auch erst elf. Bei mir ging es eher darum, die Träume meiner Eltern zu spüren, loszufahren und die Welt zu sehen. Das machen wir bis heute so. Das ist übrigens interessant: Ich erlebe ganz oft, dass die meisten Westdeutschen viel, viel weniger von der Welt gesehen haben, als meine ostdeutschen Freunde. Viele haben im Ausland ihre Partner kennengelernt, meine Frau etwa ist Finnin.
Wie gern leben Sie im Deutschland 2012?
Schwochow: Auch wenn ich viele Dinge bemerke, die mir Angst machen, lebe ich gern hier. Ich bin aber generell auch kein pessimistischer Mensch.
Was macht Ihnen denn heute Angst?
Schwochow: Angst macht mir, dass wir es nach anfänglicher Kritik mittlerweile klaglos hinnehmen, in einem Überwachungsstaat zu leben, gläserne Bürger zu sein. Oftmals bemerken wir gar nicht mehr, was um uns herum so passiert. Diese Gleichgültigkeit finde ich gefährlich. Und trotzdem lebe ich gern hier, weil es mir gut geht und ich in der Lage bin, meine Filme zu machen.
Michelsen: Ich mag, dass meine Kinder hier aufwachsen. Deutschland hat was sehr Handfestes, Reales und trotzdem Sicheres. Das Deutschland von heute ist trotz Krise ein sehr glückliches Land, mir macht eher Angst, was hier in 20 Jahren passiert. Als Unterstützerin des Kinder- und Jugendwerkes Die Arche macht mich die Ignoranz gegenüber der Armut von nebenan fassungslos. Wir interessieren uns anscheinend nicht dafür, was vor unseren Augen passiert.
Schwochow: Das kann man sehr ausweiten. Ich weiß zum Beispiel noch, wie wir an meiner Schule in Hannover gegen den Golfkrieg demonstriert haben. Ich frage mich, ob meine Tochter mit zehn, elf Jahren überhaupt ein Bewusstsein dafür haben wird, dass auf der Welt ständig zig Kriege geführt werden und man dazu eine Haltung entwickeln sollte?
Michelsen: Auch dafür liebe ich meinen Beruf, dass man auf gewisse Themen aufmerksam machen, in Interviews Dinge ansprechen kann. Und sei es auch nur, indem man wie im „Der Turm“ die Geschichte einer DDR-Familie erzählt und damit dafür sensibilisiert, dass die DDR mehr war als Stasi und Mauertote. Das ist ein Luxus. Wie viel wir damit wirklich bewegen, weiß ich nicht.
Schwochow: Aber man kann zumindest mal die Lupe draufhalten.
Welches Verhältnis zur DDR versuchen Sie Ihren Kindern zu vermitteln?
Schwochow: Bei meiner Tochter hängt ein Honecker im Kinderzimmer, ist doch klar … Nein, im Ernst: Das wird sicherlich schwer.
Michelsen: Glaube ich nicht. Das wird einfacher, als du denkst. Bei meinen Töchtern mache ich die Erfahrung, dass sie von selbst unglaublich viel wissen wollen, wie die Kindheit damals war, wie die Schule, wie das Leben.
Schwochow: Stimmt. Ich will ja nicht ja eine bestimmte Haltung diesem verschwundenen Land gegenüber aufdrängen, sondern versuchen zu erklären, zu bebildern.
Taugt Ihr Film als Unterrichtsmaterial?
Schwochow: Natürlich ist auch „Der Turm“ nicht mehr als ein Ausschnitt – aber genau das war ja der Ansatz, nicht zu zeigen, wie es war, sondern wie es auch war. Die DDR, das sind 17 Millionen verschiedene Leben. Und aufgrund dieser Differenziertheit glaube ich schon, dass mein Film als Unterrichtsmaterial taugt.
Warum lässt Sie dieses Thema nicht los?
Schwochow: Für mich ist die DDR kein Thema. So wie andere Künstler sich an ihrer Herkunft, an ihrer Biografie abarbeiten, so mache ich das auch. Es ist immer ein Suchen.
Michelsen: Es sucht ja auch dich. Das kenne ich von mir selbst. Jahrelang hatte ich mit meinen ersten 20 Jahren nichts zu tun. Und dann, mit ungefähr 40, kam meine DDR-Vergangenheit mit einer Macht zurück, etwa durch die Rolle einer Dissidentin in dem Fernsehfilm „12 heißt: Ich liebe dich“. Plötzlich fühlte es sich wieder „zu Hause“ an, was man so lange von sich geschoben hatte.
Schwochow: Mit „Die Unsichtbare“ habe ich ja auch einen ganz anderen Film gemacht, aber dass ich als Nächstes den Roman „Lagerfeuer“ von Julia Franck verfilme …
… über eine Frau und ihre Erlebnisse im Flüchtlingslager Marienfelde …
Schwochow: … ist sicherlich kein Zufall. In fast jeder Familie der DDR hat es durch die Wende ganz starke Brüche gegeben. Und im Freundeskreis setzen wir uns daher auch recht intensiv mit den Biografien unserer Eltern auseinander. Claudia hat recht: Diese Geschichten finden auch mich.
„Der Turm“: Mittwoch und Donnerstag, 20.15 Uhr, ARD
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