Urteil im Prozess gegen Cumhuriyet: „Jeder Tag Haft ist zu viel“
Im Prozess gegen 14 Mitarbeiter der Zeitung „Cumhuriyet“ wurden insgesamt 73 Jahre Haft verhängt. Ein Interview mit dem Anwalt der Verurteilten.
Der Prozess gegen die Mitarbeiter der Zeitung Cumhuriyet endete nach der achten Verhandlung am Mittwoch mit den Urteilssprüchen. Das Gericht verurteilte 13 Mitarbeiter wegen Beihilfe zu einer terroristischen Vereinigung und den Buchhalter Emre İper wegen Propaganda für eine solche Vereinigung zu insgesamt 73,3 Jahren Haft. Wir sprachen mit Abbas Yalçın, einem der Anwälte in dem Prozess.
Taz.gazete: Herr Yalçın, endlich ist kein Mitarbeiter der „Cumhuriyet“ mehr in Haft, Sie sind alle wieder zusammen in der Redaktion.
Abbas Yalçın: Ja, wir sind natürlich froh darüber. Doch angesichts dieser unvergleichlich hohen Strafen darf nicht der Fakt übersehen werden, dass kein einziger Tag davon zu Recht verhängt wurde. Dass unsere Mandanten verurteilt wurden, ohne dass irgendein Beweis für ihre Beihilfe zu einer terroristischen Vereinigung vorliegen würde, ist absolut unfair und unrechtmäßig.
Wie hoch sind die Strafen bei ähnlichen Vorwürfen im aktuellen System denn sonst?
Personen, die wegen der Mitgliedschaft bei FETÖ („Fethullahistische Terrororganisation“, Anm.d.Red.) angeklagt sind, bekommen in der Praxis sechs Jahre und drei Monate. Für die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sind also sechs Jahre und drei Monate üblich. Gegen die Cumhuriyet-Mitarbeiter wurden nun Strafen bis zu acht Jahren und einem Monat verhängt, und zwar allein wegen Beihilfe ohne den Vorwurf der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Emre İper, der in der Buchhaltung beschäftigt ist, wurde der Propaganda für eine terroristische Vereinigung bezichtigt. Die meisten Menschen würden wegen einer solchen Anschuldigung keinen einzigen Tag in Haft kommen. Die Haftstrafen wurden unter Auflagen zur Bewährung ausgesetzt. Emre İper bekam wegen drei Tweets an seine gerade einmal 32 Follower drei Jahre, einen Monat und 15 Tage Haft. Nur weil er Mitarbeiter der Cumhuriyet ist.
Müssen die Cumhuriyet-Mitarbeiter nach der langen Untersuchungshaft nun wieder ins Gefängnis? Sind rechtliche Schritte noch möglich?
Es ist zu früh, um das beurteilen zu können. Die Urteile müssen bestätigt sein, bevor jemand ins Gefängnis kommt, das kann Jahre dauern. Noch steht der Weg der Revision offen. In einem System, in dem die Rechtsprechung funktioniert und eine faire Gerichtsbarkeit gegeben ist, müsste das Berufungsgericht sie unverzüglich freisprechen. Wir werden uns an diese Instanz wenden. Wenn nötig, ziehen wir auch vor das Verfassungsgericht und danach zum Europäischen Gerichtshof für Menschengerichte.
Nehmen wir einmal an, die türkische Justiz fällt kein gerechtes Urteil, hätte denn ein EGMR-Urteil Folgen?
Wir können uns ja gar nicht direkt an den EGMR wenden, wir müssen zunächst zum Verfassungsgericht gehen. Erst wenn das Ergebnis dort negativ ist, können wir beim EGMR klagen. Verfassungsgericht und EGMR arbeiten extrem behäbig. Wir haben noch nicht einmal eine Antwort auf unsere Anträge wegen unrechtmäßiger Haft vom Verfassungsgericht. Auch der EGMR hat die Sache in die Länge gezogen, um kein Urteil sprechen zu müssen. Wir hatten wegen unrechtmäßiger Haft geklagt, jetzt werden wir uns wegen unfairer Prozessführung dorthin wenden.
Hat die Regierung mit diesem Prozess ihr Ziel erreicht?
Nein, wir stehen ungebrochen aufrecht. Wir üben unsere journalistische Tätigkeit weiter aus wie immer. Sie werden die Cumhuriyet nicht zum Schweigen bringen. Es läuft ja nicht bloß dieser Prozess, es sind darüber hinaus eine ganze Reihe von Ermittlungen, Straf- und Entschädigungsprozessen anhängig. Obendrein gibt es finanzielle Schwierigkeiten, Unternehmen scheuen sich, Werbeanzeigen bei uns aufzugeben. Seit zwei Jahren kämpfen wir mit diesen Schwierigkeiten und das werden wir auch weiterhin tun.
Wie viele Prozesse laufen denn noch gegen die Cumhuriyet?
Allein seit 2016 sind über 50 Prozesse gegen die Cumhuriyet anhängig.
Wie sieht die nahe Zukunft aus?
Nach wie vor sind Journalisten und Anwälte in Haft. Die Mahnwachen für Gerechtigkeit vor dem Gerichtspalast in Istanbul gehen weiter. Wir stehen vor Wahlen, wahrscheinlich wird die Regierung den politischen Druck erhöhen. Wir werden also weiterkämpfen, es hat gerade erst angefangen. Das zeigen auch die Worte unseres Vorstandsvorsitzenden Rechtsanwalt Akın Atalay, der am Mittwoch aus der Haft freikam: „Wir werden da weitermachen, wo wir stehengeblieben sind“.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
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