piwik no script img

Ursachen für Gewalt JugendlicherDie Schuld der schlagenden Väter

In Großstädten werden 43 Prozent der Gewalttaten Jugendlicher von Jungmännern mit Migrationshintergrund begangen. Ein Grund ist ihre Perspektivlosigkeit. Ein anderer ihre Väter.

Gewalt erzeugt Gewalt. Bild: dpa

Schon in der Grundschule fiel Cengiz E. auf. Er beleidigte Lehrerinnen, verprügelte Mitschüler, klaute. In seine Hauptschule kam der türkischstämmige Junge kaum noch. Stattdessen lungerte er mit der Clique rum. Und er brauchte Geld. Bald reichte die Beute von Ladendiebstählen und dem Abzocken von Mitschülern nicht mehr. Der Überfall auf einen Drogeriemarkt brachte ihm eine Bewährungsstrafe ein. Jetzt ist Cengiz 18 Jahre alt und sitzt im Knast. Verurteilt wurde er wegen eines brutalen Raubüberfalls auf einen Getränkemarkt.

Seitdem vor drei Wochen der hessische Ministerpräsident Roland Koch das Thema Jugendkriminalität via Bild-Zeitung zum Wahlkampfthema machte, diskutiert die Republik erregt über Jungs wie Cengiz. Über junge Männer mit Migrationshintergrund also, die früh ein beträchtliches Strafregister anhäufen und immer wieder brutal zuschlagen. 43 Prozent der Gewalttaten Jugendlicher in den Großstädten werden von Jugendlichen mit Migrationshintergrund begangen, bundesweit sind es 27 Prozent, sagt der Kriminologe Christian Pfeiffer, dessen Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) eine der wenigen repräsentativen Studien zum Thema durchgeführt hat. Der Anteil der Einwanderer an den Jugendlichen insgesamt ist weit niedriger. Doch warum schlagen die Söhne aus Einwandererfamilien so häufig zu?

Zwei Faktoren, das zeigen die vorliegenden Untersuchungen, begünstigen den Hang zur Gewalt besonders. Zum einen die soziale Lage. Zuwanderer sind überdurchschnittlich häufig arbeitslos oder haben schlecht bezahlte Jobs. Ihre Kinder landen auf der Hauptschule - und damit häufig in der Perspektivlosigkeit. Doch nicht jeder Hauptschüler wird zum Schläger. Hier kommt der zweite Faktor ins Spiel: "Die Erziehung ist das Nadelöhr", sagt der Berliner Kriminologe Claudius Ohder, "und die entscheidende Person dabei ist der Vater." Der ist in der Familie die höchste Autorität. Und genau da liegt das Problem. Denn während die CDU fordert, junge Zuwanderer härter zu bestrafen, wissen die Experten: Gerade, dass arabische, türkische oder russlanddeutsche Väter ihre Sprösslinge autoritär erziehen, trägt viel zu deren Gewalttätigkeit bei.

Durch die Akten von 264 sogenannten Intensivtätern hat sich Kriminologe Ohder gewühlt. Mit Cengiz und 26 anderen jungen Gewalttätern führte er lange - bisher unveröffentlichte - Interviews. Immer wieder zeigte sich, dass die Brutalität der Jungen mit ihrer Erziehung zusammenhängt. "Das liegt nicht an mangelnder Liebe", sagt Ohder. Vielmehr wüssten es die Väter oft nicht besser. Denn sie haben, das zeigen die Untersuchungen des Berliner Hochschullehrers, "oftmals keine Übung in liberaler Erziehung".

Ein Grund dafür ist ein äußerst traditionelles Männerbild: Ein Mann dürfe "auf Meinungen von anderen keine Rücksicht nehmen, muss selbstbewusst seine Position verteidigen und standhaft auf seinen Ansichten beharren", beschreibt eine Studie der Berliner Landeskommission gegen Gewalt das männliche Ideal in vielen Zuwandererfamilien. Um seine Meinung durchzudrücken, müsse der Familienvater "die dafür notwendige Dominanz einsetzen".

Bei Gewalttäter Cengiz zeigten sich die Probleme früh. In seinen Schulakten ist in den ersten beiden Unterrichtsjahren von Disziplinlosigkeit und von "schwierigem Sozialverhalten" zu lesen. Häufig reagieren die Väter nach einem typischen Muster auf solche Schwierigkeiten. "Es gibt - grob vereinfacht - drei Stufen der Reaktion", sagt Ohder. "Zuerst kommt die Ermahnung, dann die Einschränkung, also Hausarrest oder die Auflage, das Haus nur noch mit dem Bruder zu verlassen." Alles ende mit harten Drohungen wie der, den Sohn ins Heimatland des Vaters zurückzuschicken.

Doch dabei bleibt es nicht. Wenn die Väter nicht mehr weiterwissen und sich herausgefordert fühlen, schlagen viele von ihnen zu. Wie verbreitet Gewalt als Instrument der Erziehung etwa in türkischstämmigen Familien ist, zeigt eine Schülerbefragung des Forschungsinstituts KFN. Danach haben 17 Prozent der deutschen Jugendlichen, aber 30 Prozent der türkischen Züchtigung und Misshandlung in der Kindheit erlebt. Für acht Prozent der deutschen Jugendlichen gehörte Gewalt auch in den zwölf Monaten vor der Befragung noch zu den Erziehungsmethoden der Eltern, bei den türkischen Jugendlichen war der Anteil mit 18 Prozent mehr als doppelt so hoch. Noch deutlicher sind die Unterschiede beim Umgang zwischen Vater und Mutter. Sechs Prozent der deutschen und 27 Prozent der türkischstämmigen Jugendlichen beobachteten, dass die Eltern untereinander Gewalt anwendeten.

"Eine Ohrfeige als Sanktion ist ganz normal", sagt Ahmet Toprak, Pädagogik-Professor von der Fachhochschule Dortmund, der die geschlechtsspezifische Erziehung türkischer Einwanderer untersucht hat. Seine Forschungsergebnisse hat er unter dem Titel "Wer sein Kind nicht schlägt, hat später das Nachsehen" veröffentlicht. Das sei ein gängiges türkisches Sprichwort, sagt der Pädagoge. "Ein Schlag gilt nicht als Gewalt." Genau darin sieht Toprak, der früher als Sozialarbeiter mit gewalttätigen Migrantenjungs gearbeitet hat, ein zentrales Problem. Denn vom Vater lernen die Jungen: Wer schlägt, ist stark, also ein richtiger Mann. Wenn die Jungen, denen es häufig an Selbstbewusstsein und Anerkennung fehlt, selber Macht fühlen wollen, schlagen sie zu. "Das Opfer wird dabei als Tankstelle für das Selbstwertgefühl benutzt", sagt Toprak. "Fast alle Täter waren früher selbst Opfer."

Und die Probleme verschlimmern sich. Denn mit Arbeitslosigkeit und den einhergehenden sozialen Problemen verlieren die Väter an Autorität. "Die Jungen sehen doch: Der kriegt nichts auf die Reihe", sagt Toprak. "Da bleibt nur eine Hülse, das ist ein großes Problem." Der Vater kann seine Söhne nicht zum Einlenken bewegen, weil er die zugeschriebene Autorität längst nicht mehr hat. Auch Deutsche haben solche Probleme: Jana Hensel beschreibt in ihrem Roman "Zonenkinder", wie ostdeutsche Eltern bei ihren Kindern im Ansehen sinken, weil die nach der Wende ihre Jobs verlieren und sich in der neuen Welt nicht zurechtfinden: "Wir waren die Söhne und Töchter der Verlierer." Manche Experten sehen durchaus Parallelen zwischen der Gewalt ostdeutscher Jugendlicher und der der Einwanderer.

Cengiz Vater kam gemeinsam mit seiner Frau in den 60er-Jahren aus einer ländlichen Region in der Türkei nach Berlin. Cengiz und seine fünf älteren Geschwister sind hier geboren. Die Eltern haben nur wenig Schulbildung, bis heute sprechen sie kaum Deutsch. Der Vater ist arbeitslos. Er zog sich zurück, als Cengiz Probleme größer wurden. Der älteste Bruder konnte die Leerstelle nicht füllen, der Junge driftete immer mehr ab.

Damit Jugendliche wie Cengiz lernen, dass Männer bei Problemen nicht unbedingt zuschlagen müssen, hat Ahmet Toprak in seiner Zeit als Sozialarbeiter bei der Arbeiterwohlfahrt in München ein Antiaggressionstraining entwickelt. In dem Programm, das sich über zwölf Wochen erstreckt, müssen sich die Schläger zunächst Fotos ihrer Opfer ansehen. "Sie werden erstmals mit den Folgen ihrer Tat konfrontiert", sagt Toprak. "Dann versuchen sie, sich zu rechtfertigen: Der hat meine Freundin blöd angeguckt, der hat meinen Freund beleidigt, kommt es dann." Soll heißen: Ich musste zuschlagen, denn sonst wäre die Ehre dahin. "Alles wird mit der Ehre begründet", sagt Toprak, "dabei kann kaum einer von ihnen erklären, was das überhaupt ist." Die Sozialarbeiter versuchen, den Jugendlichen klarzumachen, dass sie entscheiden, ob sie zuschlagen oder nicht. "Natürlich können wir nur verunsichern und Fragezeichen implementieren", sagt Toprak. "Aber häufig bringt das schon was."

Doch um wirklich etwas zu ändern, müsse man die Eltern erreichen, sagen die Fachleute. Das geschehe am besten durch andere Migranten. Angebote dieser Art gibt es inzwischen vielerorts: In Berlin entwickelt der Türkische Elternverein Seminare zur Frage: Wie stärke ich mein Kind? In vielen Städten Bayerns laden von Sozialarbeitern geschulte Eltern andere Eltern zum Gespräch über Erziehung nach Hause ein. Das Projekt "Elterntalk" hat großen Zulauf. Ähnlich arbeiten auch die Berliner Stadtteilmütter. Dort gehen geschulte Migrantinnen in Familien und bieten ihre Hilfe an.

Für Cengiz Familie kommt diese Hilfe zu spät. Die Kinder sind aus dem Haus, die Eltern planen ihre Rückkehr in die Türkei. Doch Claudius Ohder, der Kriminologe, glaubt, dass auch Jungen mit Biografien wie Cengiz "mit 25 völlig unauffällig leben können". Dazu brauche es intensive Unterstützung nach der Haft, Hilfe beim Nachholen des Hauptschulabschlusses und der Jobsuche. "Das ist natürlich teurer als die Vorschläge von Roland Koch", sagt Ohder. "Aber dafür macht es auch Sinn."

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare