■ Nachschlag: Urknaller: Die Stephen Petronio Company beim Tanz im August
Absturz aller Daten. Nur noch Pixel flirren. Mit einer Auflösung der Geschichte, einem Sturz rückwärts zum Nullpunkt des Seins, begann „Not Garden“, ein Stück des New Yorker Choreographen Stephen Petronio. Über einen dünnen Gazevorhang schickte er unter dem Vorzeichen „Not“ Namen in die Hölle des Nichtseins, die von Diktatoren der Geschichte über Politiker und Marken der Gegenwart bis zu computergenerierten Klonen reichten. Kaum konnten die Augen den Buchstaben folgen, schon war die Geschichte vorübergezischt und bei der letzten Station angelangt: „Not Me“.
Doch da hatte hinter der projizierten Schrift schon längst eine gegenläufige Bewegung angefangen, die diesem Sturz durch die Geschichte ein flimmerndes Netz von Beziehungen entgegenhielt. Nicht mehr angewiesen auf Axialität und symmetrische Raumordnungen, entfalteten die acht Tänzerinnen und Tänzer der Stephen Petronio Company komplexe Strukturen in Raum und Zeit, durch die vielfältige Impulse glitten und trieben. Energie und Dynamik scheint für die New Yorker Company keine Frage der Kraft und Anspannung, sondern vielmehr der Durchlässigkeit und Offenheit. In Sprüngen, Drehungen und wirbelnden Spiralen, mit tief eintauchenden Armen und Wirbelsäulen, die sich geschmeidig wie Schlangen durch den Raum winden, verwischt jede Sequenz die Spuren der vorhergegangenen.
In diese Beweglichkeit mußte man eintauchen wie in eine noch nicht gehörte Musik, bis man im scheinbar Strukturlosen das Potential an neuen Verbindungen erkennen konnte. Auf die Leinwand hinter und vor den Tänzern wurden derweil Bilder von Flugzeugen und fallenden Bomben, von Feuer und Rauch, von aufsteigenden Luftblasen und den Riesen des Meeres in Slow Motion projiziert: Zwischen ihrer Verlangsamung und der Beschleunigung der Körper verlor sich das Zeitgefühl. Aber auch die physische Präsenz der Körper wurde zwischen Maschinenteilen und Sternennebeln immer mehr zu einem abstrakten Muster, das kleinste Energieteilchen ebenso wie planetarische Konstellationen bezeichnen könnte. Als ob man in die Materie gleich nach dem Urknall blicken würde, wo die Muster der Entwicklung noch nicht entschieden sind. Katrin Bettina Müller
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