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■ Urdrüs wahre KolumneGescheiterte Staatsmänner

Ein Stadtstreicher-Trio müht sich unweit der Schweine in der Bremer Sögestraße um die Öffnung einer Weinflasche mittels einer dafür ziemlich untauglichen Fahrradspeiche. Dabei entgleitet dem einen die Pulle und er baut sich im wohlvertrauten Politiker-Gestus vor den Kumpanen auf und erklärt pathetisch: „Dafür übernehme ich die volle Verantwortung.“ Die Tatsache, daß er anschließend höchstselbst und eigenhändig mit der Beseitigung der Scherben beginnt, widerlegt nachhaltig jeden aufkeimenden Verdacht, es könne sich tatsächlich um einen gescheiterten Staatsmann handeln.

Banken vergeben Konsumentenkredite, fordern munter zum Dispo-Überziehen auf, machen Arbeitsplätze kaputt und ruinieren Existenzen. Und die Sparkasse gibt ihren Opfern mit der Verweigerung eines Girokontos den Rest. Niemand aber stellt ernsthaft die Frage, woher der aus dem Ruhrgebiet hergelaufene Sparkassenangestellte Ulrich N. plötzlich das Spielgeld zum Kauf einer eigenen Bank hat: Fragen wir doch mal den Senator aus dem Wackelsteiner Ländchen, der sein Vermögen mit dem eingesparten Milchpfennig begründete...

Ein niedersächsisches Bestattungsunternehmen macht angesichts der novemberlichen Saison des Totenkults auf seine bequemen Finanzierungsmöglichkeiten „noch zu Lebzeiten“ aufmerksam und verheißt dem Kunden als ultimativen Kick: „So finden Sie in Ruhe letzte Ruhe.“ Wer kann da schon nein sagen?

Lieber Henning! Wie jede anständige Bremerin und sicher auch jeder Deiner Wohngenossen wirst Du Dich darüber gefreut haben, daß der Corps-Geist der bremischen Polizei nicht vollständig funktionierte und der um 39.000 Mark geprellte Handelsmann aus der Ukraine jetzt vom hiesigen Gericht Genugtuung erfuhr durch das Urteil gegen die räuberischen Uniformträger. Was in der Freude über diesen späten Triumph der abstrakten Gerechtigkeit vergessen werden könnte: Die hier per Amtsgewalt bestohlenen Fremden haben ihr Geld immer noch nicht wieder, werden gar auf den langen Weg der Zivilklage verwiesen. Noch dazu mit ungewissem Ausgang, dürfte die Beute doch längst in Kneipen, Boutiquen und Geschäften für Autozubehör verjuxt worden sein. Möglich war das Verbrechen doch nur dadurch, daß WIR LIEBENSWERTEN BREMERiNNEN diesen Typen ein Gewaltmonopol anvertraut haben. Deshalb, Henning, mach die Wiedergutmachung zur Chefsache, heute noch! Raus mit den letzten Groschen aus der Gemeindekasse, einschließlich Zins und Zinseszins, Schmerzensgeld und Schadenersatz. Damit ROLAND mit dem Lebkuchenherz wieder stolz auf seine Stadt blicken kann. Mit einer Sammlung zugunsten der Bestohlenen wollen wir heute in der GaDeWe beim Kabarett der Literarischen Gewalttätigkeiten beginnen - Dein sofortiges Handeln aber kann diese private Initiative nicht ersetzen. Sei umarmt, Bruder in Christo!

Von den wackeren Antifas erreicht mich das Ersuchen, im Rahmen einer Protestaktion gegen Kurdenverfolgung und PKK-Verbot für ein Foto mit den verbotenen Emblemen zur Verfügung zu stehen. Da bin ich doch gern bereit, mein FDJ-Hemd aus- und die bunte PKK-Joppe anzuziehen oder mich als Bannerträger der kurdischen Nationalflagge zu betätigen, solange ich mir noch ein kleines A mit Kreis drumrum anheften darf. Im übrigen empfehle ich, die inkriminierten, an sich aber doch recht hübschen Symbole auch auf Raver-Kappen und T-Shirts anzubieten: Das nimmt ein wenig Luft aus dem Pathos und macht die Kriminalisierung unmöglich. We are a family! Und im übrigen bin ich der Meinung, daß man Fertighaus-Konsul Karlchen Grabbe von mir aus auch Walter Kempowski, Ronald McDonald oder Wüstenrot-Bausparfuchs nennen darf. Die mag ich alle gleich gern.

Abschließend ein gebührenfreier Hinweis für die vereinte Mischpoke aus hanseatischem Messewesen und Wirtschaftsförderung: Von derzeit zwölf bundesweit beworbenen Musicals sind nur vier kein Flop. Ihr macht zwar trotzdem, was Ihr mit anderer Leute Geld machen wollt, aber Eure Ignoranz sollte später nicht als mildernder Umstand berücksichtigt werden... Und natürlich hat Euch niemand bestochen: Beim Gesinde reicht ein Häppchen Lachsforelle und ein feuchter Augen-Blick der Chor-Mädchen aus der dritten Reihe!

P.S.: Heute um zehn Uhr wird Iradj Paya auf dem Waller Friedhof verabschiedet. Weiß diese Stadt, wer da von uns ging?

Ulrich Reineking etc.

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