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■ Urdrüs wahre KolumneEmma Goldmann-Brigade

Am vergangenen Samstag begegnet mir zur frühen Heimkehrstunde ein älterer Bohemien mit klapprigem Fahrrad, der mir fast in die Seite fährt – dies muß nicht unbedingt alkoholisierter Lebensführung zuzurechnen sein, denn am Bike hängt ein mit Kisten und Kartons völlig überladener Anhänger. „Habe jetzt erst mitgekriegt, daß wegen der Scheiß-Einheit der Flohmarkt ausfällt. Und ich kann sehen, wo ich jetzt meinen Kram loswerde. Das sagt mir jetzt kein Schröder und kein Kohl, wie ich was verdienen kann“, empört sich die unternehmerische Randexistenz. So nehme ich ihm wenigstens für einen Heiermann das just obenauf liegende Buch „mit über 6.000 Quizfragen aus allen Wissensgebieten“ ab und hoffe zuversichtlich, diese Investitionen über die Steuererstattung als Vorleistung auf den Solidarzuschlag zurückzubekommen. Falls nicht, werde ich als enttäuschtes Opfer der Wende meinen Frust so grundsätzlich artikulieren, daß das System der Gesamttücke eigene Streetworker für mich einstellen muß!

Die taz lügt. Behauptet das Blatt doch, daß der Minipräser des kleinsten deutschen Bundeslandes den liebenswerten Radio-Bremen-Intendanten Klostermeier angebrüllt (!) habe. Wer immer den verschmusten Bürgermeister dieser schon von Ringelnatz, Heine und selbst Friedrich Engels hochgelobten Stadt kennt, der weiß, daß dieser Nicaragua-Kaffeepflanzer und unermüdlicher Solidaricus nicht noch sein Wasser an Menschen abschlägt, die schon unter den dreistesten Anwürfen schurkischer Piesepampel zu leiden haben. Womöglich hat Zündelmann Bernd E. Neumann in seinen letzten Zuckungen als Medienexperte einer untergehenden Politsekte das Gerücht in die Welt gesetzt, um eigener Infamie den Schein des Mehrheitswillens zu geben. So einfach, Herr Sanitätsgefreiter, lassen wir uns vom Glauben an die politisch-moralische Integrität von Scherf nicht abbringen: WG-Genosse Henning ist ein Nashorn, kein Schwein!! Und außerdem Jurist – wie würde er da die verfassungsmäßige Staatsferne zum Sender und die Loyalität zu Karl-Heinz verletzen?

Lebenskluge BremerInnen treffen sich immer wieder gern im „Lustigen Schuster“ am O-Weg, um bei Bier und Buletten Gegenentwürfe zur Barbarei dieser Gesellschaft zu entwickeln. Ebendort drückt mir dieser Tage eine appetitliche Dame um 30 mit gleißnerischem Lächeln einen Antrag auf Mitgliedschaft im Sportverein Eiche Horn in die wulstigen Fingerlein. „Tu mal'n bißchen was für dich ...!“ Wenn das noch mal passiert, muß ich die Kneipe wechseln. Sehr leider!

Eine herzliche Bitte ergeht hiermit an jene LeserInnen dieser Spalten, die dem würdevollen Gedanken der Anarchie nahe stehen: Im Kleinanzeigenteil des aktuellen MIX sucht eine Sabine mit 34er Telefonnummer AnarchistInnen für eine Gruppe. Sollte dieser hoffnungsvolle Ansatz zur Etablierung einer Emma Goldmann-Brigade am hiesigen Markt der Gedanken und Ideen am Ende daran scheitern, daß libertäre Elemente nie das Kleingedruckte lesen? Bitte das Heft nochmals zur Hand zu nehmen und zur Tat zu schreiten: Am Anfang war das Wort!

Wer dieser Tage am Bremer Hauptbahnhof eine Reise antritt, der weiß in etwa, wie es nach dem Krieg ausgesehen hat. In der Trümmerzeit aber gab es noch keine Radfahrer, die auf Hochgeschwindigkeitsgeschossen durch den Tunnel preschten, sich den Weg mit dem Ruf „Schleich dich!“ freibölkten und sanftmütige Bahncard-User mit Gepäck zu spontanen Seitensprüngen zwangen: Mich kotzen Zweirad-Ferraristas an, denen zum Amateur-Schumi nur der ganz reiche Papa fehlt, und insgeheim freue ich mich auf die nächste Nachkriegszeit, in der man solchen Bikomaniacs eine verrostete Gangschaltung auf dem Schwarzmarkt für sechs Flaschen vom guten Everswinkler Wacholder verkaufen kann! Meint ganz im Ernst

Ulrich „gut zu Fuß“ Reineking

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