■ Urdrüs wahre Kolumne: 33 Tage Segen
Wenn man in der ZEIT auf längeren Zugfahrten selbst die Seiten mit den kultivierten Mädchenfrauen zum Pferdestehlen in Jeans und Abendkleid durchgelesen hat und sein Interesse in höchster Not auch schon an die Offerten der Fastenwanderungen in der Rhön mit der Reisegruppe des Philosophischen Kollegs für Sinnstiftung verschwendete, bleibt in Tante Dönhoffs Buntem Blatt immerhin noch das monatliche Supplement CHRISMON. Dieses Magazin des deutschen Protestantismus für relativ kirchenferne Rotweinfreunde aber ist in seiner aktuellen Ausgabe bei einer Vermarktungsidee gelandet, die den alten Luther seinerzeit wohl zum Werfen ganzer Tintenfass-Salven getrieben hätte: Als „Balsam für die Seele“ preist man uns für jeden Morgen eine SMS.Segenscard unter dem Markennamen Chrismon plus an, mit „mal gedankenvollen und mal heiteren“ Sprüchen für den Tag, die dann jeweils um sieben Uhr morgens auf dem Handy-Display erscheinen. „33 Tage Segen für DM 19,90“ – wer dieses „außergewöhnliche Geschenk für gute Freunde“ unter seinem Gabentisch findet, der sollte dem Schenker kräftig ins Evangelium treten, wo immer das gerade bei diesem Big Spender angesiedelt ist. Meinen Segen gibt es gratis dazu!
Die Nase trieft, der Hals, er schmerzt und aus den Augen fließen Tränen: In dieser Leibesnot versuche ich, mich auf dem Weihnachtsmarkt durch ein gebräuntes Ende Rostbratwurst aufzurichten, doch auch die vergrippten Geschmacksnerven versagen ihren Dienst, und das Grillgut schmeckt selbst mit viel Senf nur noch wie Tofu ohne irgendwas. Bereits nach zwei Bissen wird das Teil entsorgt, da weit und breit kein Kumpel in Sicht ist, den man zur Übernahme der restlichen Speise motivieren könnte: Manchmal ist das Leben so wenig schön, dass man gleich nach Bremerhaven ziehen könnte ...
Wacker und wehrhaft verteidigten die Bremer Stadtwerke ihre Beschäftigten gegen die Rasterfahndung des BKA, und als Regionalsprecher der United Sleepers kann ich diese Standhaftigkeit gegen das Schweinesystem nur wärmstens begrüßen. Auch sowas sollte man im kollektiven Gedächtnis bewahren, wenn Frau Veronica Ferres uns wieder mal halbnackicht in ihr Billig,billig-Lotterbett von E.on locken möchte.
Nach dem „PISA-Schreckschuss“ sieht die gute Bremer Kindergartentante Ilse Wehrmann als Bundesvorsitzende der Evangelischen Tageseinrichtungen eine „Revolution“ auf den Vorschul- und Schulbereich zukommen. Nix dagegen, allzeit bereit! Und bitte um Nachricht, wann ich mein altes Büchlein mit den Liedern junger Pioniere vorbeibringen soll. Rote Halstücher und Wimpel lassen sich bestimmt noch in der Batikgruppe für diese Wende herstellen, und dann üben wir das gemeinsame Aufs-Töpfchen-gehen mit Schnatterinchen und Pittiplatsch dem Liiieben!
Bei einem „Garagenflohmarkt“ in der Neustadt macht es sich ein Plüschlöwe auf einem Kunststofflederses-sel bequem, ein Schaukelpferd ist mit zwanzig Mark bestimmt nicht überbezahlt, und auch eine Sammlung von 86 verschiedenen Miniatur-Schnapsflaschen ist für 50 Mark sicher ein echtes Schnäppchen, sofern man den parallelen Verzehr von Magenbitter, Eckes Edelkirsch, Wodka-Feige und Weizenkorn nicht grundsätzlich ablehnt. Das Eindrucksvollste aber ist zweifellos das Motto des Ganzen, mit schwarzer Plaka-Farbe auf einen größeren Waschmaschinenkarton getupft: „Alles! Alles! Wirklich alles muss weg!“ Und jeder I-Punkt, jedes Pünktchen bei den Ausrufezeichen ist mit einem roten Herzchen versehen, aus dem kleine Filzstift-Blutstropfen zu sickern scheinen. Welche tragische Geschichte wird uns hier vorenthalten? Kann man jetzt noch Heiligabend feiern, so als ob es solche Not nicht gäbe?
In jedem Falle geregelte Verdauung wünscht sich und Dir
Ulrich „Wunderkerze“ Reineking
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