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Unterm Strich

Der Literaturbetrieb hat sich für das Jahr 1994 Bewältigungsarbeit vorgenommen: Nach „Echolot“, dem monumentalen Gedenkprojekt von Walter Kempowski, wird jetzt noch tiefer in der Geschichte gegraben: Richard Leaky und Roger Lewin haben ein Buch über den „Ursprung des Menschen“ am Beispiel des kenianischen Turkana-Jungen geschrieben. Er wird wahrscheinlich vor 1,5 Millionen Jahren am Ufer des Turkana-Sees ums Leben gekommen sein. Nun hat Leaky dessen Skelett zusammengefügt und herausgefunden, daß der Turkana-Junge das „Ende einer affenartigen Vergangenheit“ und den Beginn des Homo sapiens darstellt.

Robert Lawlor geht methodisch anders vor: Seine Kulturgeschichte der australischen Aborigines beginnt mit einem Traum. Statt sich an Knochen abzuarbeiten, hat der New Yorker Kunsthistoriker jene eigentümlichen Gesetze und Mythen der Ureinwohner Australiens analysiert, die seiner Meinung nach von Beginn an im Einklang mit der Natur gelebt haben sollen. Erst durch das Auftauchen der Weißen seien die Eingeborenen jäh aus ihrer „Traumzeit“ gerissen und von Thomas Cook und Konsorten in die Bürgerlichkeit gepreßt worden. Aber mit Träumen ist es immer so eine Sache: Zumeist sind sie schon Teil der Zeit einer anderen Auslegung.

Zum achtzigsten Geburtstag von Arno Schmidt wird auf eine Werk-Analyse verzichtet, statt dessen malt sich unsere hochgeschätzte dpa-Mitarbeiterin Claudia Herstatt ein Dichterleben aus, wie es nicht besser über Heideggers Holzwege hätte formuliert werden können – Die Zettel hat Arno Schmidt in der Natur erträumt: „Mit vielen früheren Freunden und Kollegen verkracht, stellt man sich ihn am Tag des 18. Januars eher allein vor – etwa bei einem Spaziergang in der düster-nebligen Lüneburger Heide, mit dem Stock in der Erde stochernd, grübelnd an einen Zaun gelehnt, um dann daheim über seinen Tausenden von Zetteln zu brüten.“ Bleibt nur nachzutragen, daß „Zettels Traum“ auch auf jenen Weber namens Zettel in Shakespeares „Sommernachtstraum“ anspielt. Am Ende fand der Ausflug in die Natur – ganz kantisch – wahrscheinlich doch nur vom Schreibtisch aus statt, vielleicht bei der Lektüre des Joyceschen „Ulysses“, über den Schmidt einmal bemerkt hat: „Nicht auszulesen bis ans Ende des Angelsächsischen.“

Mitunter ist faszinierend, wie manche Zeitgenossen sich durch die Historie wühlen und dabei die Fakten umschiffen. Richard Lee Marks hat ein Buch über den spanischen Mexiko-Eroberer Hernán Cortés geschrieben: „Der Tod der gefiederten Schlange“. Auch Mexikaner kommen darin am Rande vor: Immerhin blieben von den Azteken, bei denen „Idylle und Grausamkeit“ dicht beieinandergelegen haben sollen, etwa 240.000 der Ureinwohner auf dem Schlachtfeld.

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