piwik no script img

Unterentwickelte Flirtkultur

In Rußland nimmt die Sexualfeindlichkeit langsam ab  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Der Statistik zufolge betrügen 40 Prozent der Moskauer Frauen ihre Männer und 60 Prozent der Ehemänner ihre Angetrauten. Die übrigen 40 Prozent der Göttergatten müßten also treu sein wie Gold. Doch bei den Erfahrungen, die meine Kolleginnen und ich in der russischen Hauptstadt machen, verfehlt die Statistik ihr Ziel. Wir gehen mit russischen Gesprächspartnern, die uns sympathisch sind, höchstens in eines der sauteuren Bistros. Bei einer Einladung in die eigene Wohnung nämlich endet der Abend sonst auf monotone Weise: Der Gast speichelt ebenso intensiv wie sympathieheischend mein Gesicht ein und versucht, mich innig zur Brust zu nehmen.

Diese etwas ungelenke Art des Umgangs mit Sexualität ist eine Folge der Sexualfeindlichkeit, die in der russischen Gesellschaft seit den zwanziger Jahren herrschte und der sich auch die Frauen nicht entziehen konnten. Frauen der mittleren Generation wuchsen in Rußland mit einer verschwommenen Vorstellung von den eigenen Geschlechtsorganen auf. Abtreibung stellt noch immer die am häufigsten praktizierte Verhütungsmethode dar. Als ich vor Jahren mal in einer gynäkologischen Klinik lag, war wohl nicht zufällig eins der beliebtesten Gesprächsthemen meiner Zimmergenossinnen der Austausch von Tricks zur Vermeidung des ehelichen Geschlechtsverkehrs: von den alltäglichen Kopfschmerzen bis zur allwöchentlichen Menstruation.

Inzwischen hat sich da einiges geändert, und viele Russinnen stehen heute vor dem umgekehrten Problem. Ärztinnen und Psychologinnen versichern, daß aufgrund der allgemein verbreiteten männlichen Trunksucht die Impotenzrate im Lande sehr hoch ist. Unter dem Einfluß der jetzt in allen U-BahnUnterführungen erhältlichen Aufklärungsliteratur wächst im Gegenzug die sexuelle Experimentierfreudigkeit nun auch unter der weiblichen Bevölkerung. Von der Theorie zur Praxis führt das Anzeigenblatt Von Hand zu Hand. Darin finden sich seitenweise Annoncen wie: „Gesunde Mittdreißigerin ohne materielle Interessen wünscht Treffen mit ungehemmtem Gleichaltrigem auf ihrem eigenen Territorium – nur tagsüber.“

Gerade die KPdSU, die über alle Werktätigen eine persönliche Moralakte führte, hat der Untreue beider Geschlechter schon früher das Bett bereitet: in WissenschaftlerInnenwohnheimen, Sanatorien und den so beliebten „Häusern des künstlerischen Schaffens“. Dem klassenlosen Igor zur Ehre sei gesagt: Wenn er seine Ehegenossin zum Aufenthalt in ein solches Etablissement schickte, drückte er meist beide Augen zu. Meine Freundin Irina, die ein Buch über die Geschichte der russischen Frau schreibt, meint, weniger sexuelle Neugierde habe damals die Triebfeder für weibliche Ehebrüche gebildet als vielmehr der Wunsch nach „kleinen Fluchten“ aus der Gängelei des Alltags.

Mit dem Kapitalismus in Rußland wächst auch das Besitzdenken in bezug auf die eigene Frau. Sorgentelefone und Beratungsstellen werden geradezu blockiert von den Ehefrauen der Neureichen. Viele von ihnen beklagen sich, daß sie von ihren Männern wie Sklavinnen gehalten werden. Parallel dazu wächst bei den Männern der Trend zur Zweitfamilie – zur ausgehaltenen Geliebten mit eigener Wohnung, Haushaltsgeld und Kindern. Eine überraschende Erklärung dafür bietet die Psychologin Olga Sdrawomyslaja: Der „neue Russe“ geniere sich vor seiner Familie wegen der Geschäfte, durch die er reich wird. Andererseits benötigt er eine Gefährtin, mit der er über seine Angelegenheiten offen reden kann: ein fixes Mädel aus „Busineß-Kreisen“. Außerdem, meint sie, „fehlt es bei uns ebenso an einer Kultur des Geldausgebens wie an der Flirtkultur. Irgendwo muß der russische Neureiche es schließlich hineinstecken – sein Geld.“

Bleibt die Frage, was die Verheirateten im Lande beieinanderhält. Bei einer Scheidungsrate von fast 60 Prozent in Moskau kann es jedenfalls nicht mehr die gesellschaftliche Konvention sein. Da sind Wohnungsnot und materielle Erwägungen mit im Spiel, und wenn mich nicht alles täuscht, mitunter sogar Liebe. In solchen Fällen verbinden die Schwierigkeiten des gesellschaftlichen Wandels mehr, als sie trennen. Neulich bat die Komsomolskaja Prawda ältere Ehepaare, ihre Hochzeitsfotos einzuschicken und ihre Gedanken dazu zu notieren. Da schrieb die Ehefrau eines Bergmanns aus Lugansk: „Dem Staat wollten wir nie in die Tasche langen, wir glaubten an die lichte Zukunft. Nicht nur wir allein. Jetzt haben wir alle unsere Ersparnisse verloren. Sei's drum. Unsere beiden Söhne sind gut geraten. Wenn das kein Glück ist? Und meinen Mann liebe ich jetzt viel mehr als damals, als das Foto gemacht wurde. Was ich diesem ganzen übergeschnappten Land hiermit kundtue.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen