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■ Unsere Belehrungs- und Heilskultur ist am Ende. Die Bildungsreform kann nur eine Reform von unten seinMultimedia in den Köpfen

Es tut sich was in den Köpfen. Detlef B. Linke, Hirnforscher an der Bonner Universität, alles andere als ein New-Age-Scharlatan, ist überzeugt davon, daß wir heute Akteure und Zeugen eines Umbaus unserer Wahrnehmungs- und Denkweisen, also der Organisation unseres Gehirns, sind, der nur vergleichbar ist mit der Zeit vor hundert Generationen, als Homer seine Ilias aufzeichnete. Bilder und Wörter, Zeichen und Gefühle werden neu gemischt – Multimedia in den Köpfen, das Ende der monotheistischen Belehrungs- und Heilskultur.

Die Schule, genauer die Belehrungs- und Unterrichtsschule, ist der letzte Tempel der aus den Fugen geratenen Monokultur. Mit den Universitäten sieht es nicht besser aus. Der nicht zu unterschätzende Lernprozeß der SchülerInnen und StudentInnen seit der Zeit der antiautoritären Revolten und der autoritär-dogmatischen Nachspiele besteht darin, daß sie den Glauben an diese Institutionen aufgegeben haben.

„institutio“, also Einführung in die Welt, bieten ihnen die Anstalten kaum. Schüler verlassen sie nach 10 oder 13 Jahren Belehrung wie Landsknechte eine aufgelöste Armee. Sie haben sich in Teilnahmslosigkeit geübt. Sie geben der Institution den unvermeidlichen Tribut. Sie managen den Einsatz ihrer Energie wie kunstvolle Betriebswirtschaftler sich selbst. Sie wissen, daß es darauf ankommt, Papiere für weitere Lebenspassagen ausgestellt zu bekommen, und sie wissen, wie wenig die Papiere wert sind. Aber die Eintrittskarten für die nächste Runde sind unerläßlich. Die Schüler tragen Masken des Wissen und unterscheiden sich darin, ob das Gesicht hinter der Maske deprimiert ist oder trotzdem lacht.

Entropie der Energien und des Engagements – das ist die neue Bildungskatastrophe. Schüler und Studierende funktionieren ganz gut, aber sie sind innerlich unbeteiligt, und wenn ihr Leben dennoch gelingt, dann deshalb, weil sie jenseits der Institution das Patchwork ihrer persönlichen Autodidaktik entwickelt haben.

Weil sich also die Kundschaft mit aller List entzieht, auch wenn sie um Anwesenheit nicht herumkommt, wollen die Kultusminister die Oberstufe des Gymnasiums erneut reformieren. Aber wie? Heute und morgen beraten die Minister in Hamburg mit einer von ihnen eingesetzten Expertenkommission die Zukunft der gymnasialen Oberstufe. Da kreisen wieder mal Berge, Papierberge, und gebären nicht mal mehr eine Maus. Der bürokratische Byzantismus allein der Sprache macht deutlich, daß die Hohenpriester eine Schule ohne Schüler im Auge haben. Da sollen „Belegverpflichtungen“ erfüllt werden, als lebten die Kids im Krankenhaus. Die Kultusminister, von denen einige wohl wissen, daß eine ganz große Reform ansteht, favorisieren die populistische Lösung: Es wird künftig mehr verpflichtende Fächer und weniger Wahlfreiheit geben. Aber noch mehr Dienst nach Vorschrift mindert weiter die innere Beteiligung.

Während die Kultusminister mit ihren tönernen Plänen und Lehrplänen dastehen wie ein Zentralkomitee kurz vor seinem Ende, verdient ein anderes Papier zur Bildungspolitik unsere Aufmerksamkeit. Von Autonomie ist da die Rede und von Kreativität, der bisher unnötige Hierarchien im Wege stünden. An ihre Stelle solle in Zukunft das „Prinzip Selbstorganisation“ treten. Auch das Verhältnis zur „Zeit“ müsse überdacht werden, denn Phasen hoher Anspannung wechselten sich mit solchen tödlichen Leerlaufs ab, und oft herrsche schlicht Langeweile.

Das sind Stichworte aus der jetzt vorliegenden Denkschrift „Zukunft der Bildung – Zukunft der Schule“, die der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, bei einer 22köpfigen Kommission von Pädagogen, Wirtschaftsmanagern und Organisationsexperten in Auftrag gegeben hat. Hier werden in einem bildungspolitischen Regierungsdokument Konturen einer nachindustriellen Schule erkennbar.

Der Rhythmus: Deutsch, Klingeln, Pause, Mathe, Klingeln, Pause, Biologie, Seite 86 aufschlagen und so weiter und so weiter. Auch wenn die schrille Klingel inzwischen durch den sanften Gong ersetzt worden ist – diese Skandierung des Schulvormittags ist dem Rhythmus der Fabrik nach- oder sogar vorempfunden. Aber inzwischen ist das Anwenden und Ausführen weitgehend den Maschinen übertragen worden. Roboterhafte Arbeiten verschwinden. Damit wird auch die Moral des Maschinisten obsolet.

Weil die Diskussion über Bildung, Kindheit und Jugend ein heimliches Selbstgespräch der Gesellschaft ist, ist es deswegen so aufschlußreich, wenn sich in dieser Kommission Hilmar Kopper, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Reinhard Mohn von Bertelsmann und Peter Meyer- Dohm von VW mit Pädagogen darauf einigen, künftig die Grundschule auf sechs Jahre zu verlängern. Und in der Grundschule wollen sie keine Noten mehr sehen. Aus Schulen sollen Kulturzentren des Stadtteils werden, die weitgehend autonom handeln. Sie sollen sich ihre Lehrer selber aussuchen dürfen, und diese Lehrer sollen auch keine lebenslangen Beamten mehr sein. Der bürokratische Behördenüberbau soll weitgehend verschwinden, die Arbeit der Schulleitung könne auch ein gewähltes Team besorgen.

Aber all das, was hier überlegt und vorgeschlagen wird, kann nicht mehr nach dem Modell von Anordnung und Befolgen umgesetzt werden. So gibt es keine andere Chance, als daß diese Denkschrift von der Gesellschaft tatsächlich als Vorlage für ihren Diskurs aufgenommen und daß dieser Ball vor allem von den Pädagogen weiter gespielt wird. Ungewöhnliche Bündnisse sind möglich und nötig. Diese Situation ist neu. Eine Schulreform, die nur eine von unten sein kann, könnte Modell und Metapher für die ganze Gesellschaft werden: der Übergang von der belehrten und oftmals noch kommandierenden Gesellschaft zu einer lernenden und sich selbst organisierenden Gesellschaft.

Ob wir das wohl schaffen? Die merkwürdige Situation ist ja, daß die oben ratlos sind und die Aktivierung der Basis fordern. Die Basis allerdings ist so lustlos, wie es die Schüler sind. Auch um solche Themen zu besprechen, soll die Schule der Zukunft, wie sie sich die Kommission in NRW vorstellt, ein besonderer Ort werden: keine Unterrichtsanstalt mehr, sondern ein Ort des Lernens. Die Schule als Polis, das ist ihre Chance. Die Gesellschaft beginnt es zu begreifen. Nun müssen die Schulen anfangen, und es wird Zeit, daß sie dem ZK der Kultusminister zurufen: Wir sind das Volk! Reinhard Kahl

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