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„Unser Entwurf war ein Gegenkonzept“

Das erste Hamburger Reeperbahn Festival war ein wirtschaftliches Fiasko. Jetzt wird es 20 und setzt auf Gendergerechtigkeit und verstärkt auf Live-Events für New­co­me­r:in­nen

Erneuert sich stetig: das Reeperbahnfestival, hier ein Konzert 2024 in der Großen Freiheit Foto: Robin Schmiedebach/Festival

Interview Dagmar Leischow

taz: Mit welcher Vision ist das Reeperbahn Festival 2006 an den Start gegangen?

Alexander Schulz: Nach meinem ersten Besuch beim South by Southwest 2000 in Austin, Texas, war ich sehr beeindruckt vom Konzept dieses Festivals, neben der Musikindustrie auch der Öffentlichkeit neue Talente zu präsentieren. Diese Idee haben wir für das Reeperbahn Festival übernommen, allerdings kamen die Fach­be­su­che­r:in­nen erst 2008 dazu. Der Kiez war für uns der ideale Standort, weil dort viele Spielstätten nah beieinander liegen.

taz: Wie ist Ihnen die erste Veranstaltung in Erinnerung?

Schulz: Am Ende des Festivals wäre ich am liebsten im Boden versunken. Denn es war ein wirtschaftliches Desaster. Wir haben nicht einmal die Hälfte des Umsatzes gemacht, den wir hätten erreichen müssen, um kostenneutral zu sein. Geschuldet war das der Tatsache, dass wir den klaren Blick von außen verloren haben und zu sehr in unsere Idee verliebt waren. Obwohl wir auch ein paar namhafte Bands wie Deichkind oder Tomte eingeladen hatten, waren die meisten Künst­le­r:in­nen unbekannt. Auf dieses Line-Up haben die Zu­schaue­r:in­nen eher zurückhaltend reagiert.

taz: Welche Konsequenzen haben Sie daraus gezogen?

Schulz: Für mich und den Konzertveranstalter Karsten Jahnke, mit dem ich 2004 eine Reeperbahn Festival GbR gegründet hatte, war zunächst gar nicht klar, ob wir weitermachen. Als wir uns für einen zweiten Versuch entschieden, haben wir die Veranstaltung quasi halbiert. Aus 25 Spielorten wurden zwölf.

taz: Jetzt gibt es 65 Spielstätten und rund 450 Konzerte. Wie ist das Reeperbahn Festival mit dem Einbruch des Tonträgermarktes umgegangen?

Schulz: Mitte der 2000er-Jahre drehte sich der Musikmarkt. Das Haupterlösmodell war nicht mehr das aufgenommene, sondern das Live-Geschäft. Die Popkomm, die schon nach Berlin gezogen war, hielt am alten Modell fest und wandte sich primär an Major-Labels, die ihre Kataloge und Künst­le­r:in­nen an Messeständen vorstellen konnten. Bei uns standen die Mu­si­ke­r:in­nen in kleinen Clubs auf der Bühne – vor Publikum statt nur vor Fachbesucher:innen. Unser Entwurf war ein Gegenkonzept, das zur Entwicklung der Branche passte. Zumal die Unternehmen kleiner, flexibler und schneller geworden sind.

Foto: Fynn Freund
Alexander Schulz

Jahrgang 1966, ist Geschäftsführer der RBX GmbH, die das Reeperbahn Festival organisiert, das Schulz mit gründete. Er leitet auch das Elbjazz Festival und ist Vorstandsvorsitzender des Hamburg Music Business e.V.

taz: Heute regiert Streaming, Trends ändern sich rasant. Was heißt das für Ihr Event?

Schulz: Heute gehen einzelne Tracks viral, meistens mit Bild. Sie erreichen hohe Nutzungszahlen, aber kaum Erlöse, und eine Woche später kommen die nächsten Künstler:innen. New­co­me­r:in­nen über ein Live-Erlebnis beim Publikum einzuführen ist nachhaltiger. Dennoch beschäftigen auch wir uns mit dem Thema Streaming, beim Reeperbahn Festival sind Unternehmen, die diese Dienste anbieten, vor Ort. Wir schaffen einen Diskursraum. Es gilt zu verhandeln, wie man die nötigen Rahmenbedingungen schafft, damit Mu­si­ke­r:in­nen an der Verwertung ihres geistigen Eigentums mitverdienen können.

taz: Warum steht das 20. Reeperbahn Festival unter dem Motto „Imagine Togetherness“?

„Heute gehen einzelne Tracks viral, meist mit Bild. Sie erreichen hohe Nutzungszahlen, kaum Erlöse, und eine Woche später kommen die nächsten“

Schulz: Es ist wichtig, sich gegenüber globalen Ver­wer­te­r:in­nen gemeinschaftlich zu positionieren. Musikmachen muss sich selbst für diejenigen lohnen, die keine Superstars sind. Das ist eine Aufgabe für die gesamte Musikwirtschaft, weil alle in einem Boot sitzen. Vielleicht ist nämlich jener Teilmarkt, der gerade boomt, in einer Dekade wieder out.

taz: Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Festivals?

Reeperbahn-Festival,:17. bis 20. 9., diverse Locations, Hamburg

Schulz: Wir werden unser Kernziel, neue Talente einzuführen und mit der Musikindustrie zusammenzubringen, in den nächsten Jahren im digitalen Raum ausweiten. Seit 2022 lässt das Videoformat Reeperbahn Festival Collide Musik und visuelle Kunst in einen Dialog treten. Gemeinsam mit dem Branchenmagazin Musikwoche haben wir den Podcast Reeperbahn Festival Deep Dive, der musikwirtschaftliche Fragen verhandelt. Neben der Keychange-Initiative basteln wir gerade gemeinsam mit Musikschulen an einem Empowerment-Programm für Jugendliche in Musikproduktion und -management. All diese Vorhaben sollen die Hauptmarke unterstützen.

taz: Mit der Keychange-Ini­tiative unterstützen Sie die Gleichstellung der Geschlechter. Wie viele Unternehmen haben Ihre Pledge unterzeichnet?

Schulz: Gut 800 weltweit. Wer bei Festivals, in Radioprogrammen oder bei einem Streaming-Service nicht auf Gender Equality setzt, wird in fünf bis zehn Jahren abgehängt sein. Wenn man sich die internationalen Charts, die erfolgreichsten Tourneen oder die einkommensstärksten Mu­si­ke­r:in­nen anschaut, stehen nämlich Taylor Swift und andere Frauen vorne.

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