: Unmündige PatientInnen
betr.: „Hausarztmodell: Vernunft wird belohnt“, Kommentar von Andreas Spannbauer, „Lotsen noch nicht in Sicht“, taz vom 19. 4. 04
Wenn ich bei der morgendlichen Lektüre der Tageszeitung meines Vertrauens immer wieder feststelle, dass ich wohl eine Brille brauche, müsste ich mich also bei Inanspruchnahme des Hausarztmodells zunächst zum Allgemeinmediziner oder Internisten – auch die gelten bekanntlich seit geraumer Zeit als Hausärzte – begeben, der mir selbstverständlich nicht helfen kann, sondern mich zum Augenarzt überweist. Hausarztmodell bedeutet also zweimaliges, nicht selten stundenlanges Sitzen im Wartezimmer, weil der/die PatientIn ja zu blöd ist, gleich die richtige Praxis aufzusuchen.
Was für ein Bild haben die Kassen, hat Andreas Spannbauer nur von den Versicherten? Der Unternehmensberater, den der taz-Kommentator dem Sozialhilfeempfänger gegenüberstellt, zahlt die zehn Euro Eintrittsgeld sowieso nicht, der ist ja wohl privat versichert. Und der Stützebezieher, der auf jeden Euro angewiesen ist, muss die Gebühr nach wie vor zahlen. Wenn er sich gegenüber seiner Kasse verpflichtet, mindestens ein Jahr lang am Hausarztmodell teilzunehmen, bekommt er erst am Ende desselben 40 Euro als Bonus zurückerstattet. Bis dahin kann er längst verhungert sein.
UWE TÜNNERMANN, Lemgo
Toll, die Arztbesuche haben sich durch die Praxisgebühr verringert – leider blieben insbesondere die sozial Schwachen weg. Toll, die Gerechtigkeit siegt – die Gerechtigkeitslücke wird geschlossen, indem die Härtefälle sich Ihre freie Arztwahl und ihren Datenschutz abkaufen lassen müssen, während die, die es sich leisten können, weiterhin so oft zum Arzt gehen, wie sie wollen oder müssen.
Toll, die Vernunft siegt – aber nicht bei der taz.
ANDREA RITZKA-DAHSE, Eppelheim
Das Hausarztmodell mag für denjenigen ein „Sieg der Vernunft“ erscheinen, der davon ausgeht, dass der unwissende Patient einem Arzt gegenübertritt, der alle Bereiche der Medizin (und auch des übrigen Lebens) überblickt. Diese Konstellation kenne ich auch – aus TV-Arztserien. In der Realität wissen heute doch viele PatientInnen, v. a. chronisch Kranke, dank Internet, Selbsthilfegruppen etc. gut Bescheid über ihre Erkrankung und suchen sich bewusst und kritisch den passenden Arzt aus, achten auch selbst darauf, dass sie beispielsweise nicht unnötig geröntgt werden. […]
Nach meiner Erfahrung als Pfleger in der Psychiatrie ist es für Menschen mit einer beginnenden psychischen Erkrankung häufig geradezu schädlich, wenn sie nicht direkt zu einem Psychiater gehen und dort fachgerecht behandelt werden (zum Beispiel bei einer Depression mit Antidepressiva), während Hausärzte, die sich mit Psychopharmaka nicht so gut auskennen, oft mit Beruhigungs- und Schlafmitteln die Symptome zu dämpfen versuchen und eine wirksame Heilung eher verzögern. HARALD RICHTER, Bielefeld
Ich habe seit 20 Jahren eine künstliche Herzklappe und seit zehn Jahren einen Herzschrittmacher. Ansonsten bin ich gesund. Wenn ich einen Arzt brauchte, war es immer ein Kardiologe, weil ich um Kontrolluntersuchungen etc. nun nicht herumkomme, bzw. eine Klinik zu entsprechenden Eingriffen wie Klappenwechsel, Schrittmacherwechsel. Ein Allgemeinmediziner hätte mich also immer zu einem Facharzt schicken müssen. Den Besuch bei einem solchen Allgemeinmediziner habe ich mir also erspart, den Kardiologen möglichst nicht gewechselt. Ansonsten brauche ich keinen Arzt, Gott sei Dank. […] Was soll mir also Ihr Hausarztmodell helfen?
Ihr Hausarztmodell geht davon aus, dass sich alle Bürger unmündig verhalten und geregelt werden müssen. Eigenverantwortliches Verhalten scheint es in dieser Denke nicht zu geben. Wo bleibt eigentlich der finanzielle Vorteil dessen, der sich wie ich verhält, gegenüber den vielen, die wohl mit 10 Euro von „Ärztehopping, Doppeluntersuchung, Medikamentenmissbrauch“ abgehalten werden müssen. Ich werde wütend, wenn ich diese Diskussion verfolge und frage mich, welche Verallgemeinerungen hier ständig in „mich“ hineininterpretiert werden sollen. G. SCHREIBER, Erlangen
So richtig verstehe ich die Aufregung um das Hausarztmodell nicht. Das ist doch gar nicht neu. Vor 20 Jahren und mehr gab es Anfang jeden Jahres zwei Hefte von den Krankenkassen mit je vier „Berechtigungsscheinen“, einmal für den Zahnarzt, einmal für den Hausarzt. Und jeder andere Arzt konnte nur mit Überweisung aufgesucht werden. Die Chipkarte brachte dann die „große Freiheit“, und damit die Kostenexplosion, weil jeder so viele Ärzte konsultierte wie ihm beliebte und Mehrfachuntersuchungen zwangsläufig folgten.
HARTMUT H. RÜBENKAMP, Braunschweig
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