: Unlust im Alltag
Mit seiner Attacke auf den Urlaub rüttelt Minister Steinbrück an einer Säule der deutschen Identität. Weil im Arbeitsleben nur Tränen als verdienstvoll gelten, richtet sich alle Hoffnung auf die Ferien
VON RALPH BOLLMANN
Es ist die perfekte Kombination zweier Tabubrüche. Auf den Urlaub verzichten, um für die nicht mehr gesicherte Rente sparen zu können: Mit seiner Verbindung dieser beiden Vorschläge rührte Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) ausgerechnet an dem doppelten Fetisch, auf den die Deutschen ihre Sehnsüchte projizieren.
Der Urlaub und die Rente – das waren seit den Fünfzigerjahren stets zwei tragende Säulen der bundesdeutschen Identität, von zentraler Bedeutung für die Wirtschaftswunder-Gesellschaft der Nachkriegszeit. Alle Hoffnungen, deren Erfüllung im Alltag nicht möglich schien, richteten sich fortan auf die Rente, möglichst mit Mitte fünfzig, und auf den Jahresurlaub, möglichst sechs Wochen im Jahr.
Der Tendenz nach entwickelten sich beide Phänomene zwar in allen westlichen Konsumgesellschaften, aber nirgends so stark wie in den protestantisch geprägten Ländern des europäischen Nordens. Nicht von ungefähr dominieren auf den Campingplätzen Europas die Wohnwagen deutscher, niederländischer oder skandinavischer Herkunft. Hinter der Fixierung auf Rente und Urlaub steckt nichts anderes als die Unfähigkeit, sich mit Alltag und Arbeit anzufreunden, die kleinen Freuden täglicher Verrichtungen kennen- und schätzen zu lernen, letzten Endes: mit sich selbst im Reinen zu sein.
Die große Flucht
Es ist ein populäres Missverständnis, anzunehmen, dass der Arbeit in der protestantischen Ethik eine positive Rolle zukomme. Das Gegenteil ist der Fall. Arbeit gilt nur deshalb als verdienstvoll, weil sie mit Schweiß und Tränen verbunden ist, Mühe kostet und schlechte Laune bereitet. Wer in seinem Beruf aufgeht, wird als „Selbstverwirklicher“ verspottet, wer über seine Arbeit nicht ständig klagt, ist mit der harten Wirklichkeit offenbar nicht recht vertraut. Verstärkt wurde diese Tendenz in Deutschland durch den Krieg: Eine ganze Generation, deren Lebensplanung fremdbestimmt war, gönnte auch den Kindern nicht die Wahl.
Weil Spaß im Alltag nicht erlaubt war, saßen also Millionen von Deutschen jahrein, jahraus im Wohnzimmer und wälzten Urlaubskataloge oder Reiseführer für die eine große Flucht im Jahr. Ein Phänomen, das die Grenzen der sozialen Schichten sprengt. Ob einer nun Ballermann bucht, den DuMont-Kunstführer bemüht oder die Reiseroute entlang der Michelin-Restaurants plant – die Sehnsucht bleibt immer die gleiche.
Die regelmäßigen Attacken auf den angeblich zu üppigen Jahresurlaub stehen dazu nicht im Widerspruch, sie gehören vielmehr seit Jahrzehnten zum Ritual – von Helmut Kohls „kollektivem Freizeitpark“ bis zu Steinbrücks jüngstem Interview. Denn der Urlaub taugt nur als Projektionsfläche von Sehnsüchten, solange man ihn nicht angetreten hat. Ist der Deutsche erst mal aufgebrochen, ergreift ihn auch unterwegs das Unbehagen am Hier und Jetzt. Nicht nur zur Arbeit brauchen wir uns zu prügeln, auch für den Urlaub müssen wir uns geißeln.
Was die Rente betrifft, haben sich die Deutschen von solchen Projektionen allerdings schon seit einigen Jahren verabschiedet. Das durchschnittliche Rentenalter steigt wieder an, und Franz Münteferings „Rente mit 67“ führte keineswegs zu Massenprotesten. Noch im vergangenen Jahrzehnt wäre das vermutlich anders gewesen. In den immer gleichen Worten versicherte Münteferings CDU-Vorgänger Norbert Blüm damals, die Rente sei „sicher“. In diesem Satz schwang immer eine Drohung mit: Sollte es eines Tages nicht mehr so sein, wäre auch die Stabilität des politischen Systems in Gefahr.
Frust im Urlaub
Aber die meisten Menschen sind entweder bereits Rentner oder vom Rentenalter noch weit entfernt, also von dessen Erhöhung nicht unmittelbar betroffen. Allgemein einsichtig erscheint zudem, dass mit steigender Lebenserwartung auch das Rentenalter Schritt halten muss, mithin eine Kürzung der Rentendauer gar nicht gegeben ist. Vor allem aber: Das Rentnerdasein selbst ist eine prekäre Sache, weil es in einer überwiegend säkularisierten Gesellschaft die Hoffnung auf ein besseres Jenseits naturgemäß ausschließt. Im Gegensatz zum Zustand des Urlaubers, der seine Unlust im Hier und Jetzt immerhin mit der Aussicht auf die Rückkehr zum Arbeitsplatz kompensieren kann.
Inzwischen ist aber auch der Urlaub vom Wandel erfasst. Zumindest im großstädtischen Milieu steht längst nicht mehr der einmalige, oftmals schon zu Weihnachten geplante Jahresurlaub im Mittelpunkt aller Wünsche und Hoffnungen, sondern der Kurztrip am verlängerten Wochenende, ermöglicht durch die Dienste der zahlreichen Billigflieger. Auf den ersten Blick erscheint das als die rastlose Steigerung des alten Phänomens; die immer schnellere Ermüdung im Alltag wird durch immer raschere Fluchtbewegungen kompensiert, die beinahe schon den Charakter des Zwanghaften annehmen.
Langfristig aber scheint sich der Fetischcharakter des Urlaubs in der neuen Beliebigkeit allmählich aufzulösen. Wer fünfmal pro Jahr in Urlaub fährt, kann auch mal zu Hause bleiben. Am Ende scheint es, als ob sich die Deutschen trotz – oder sogar wegen – ihres ökonomischen Krisenbewusstseins im Hier und Jetzt eingerichtet haben. Die säkularisierten Jenseitserwartungen, die sich auf Rente und Urlaub richteten, verlieren an Bedeutung. Insofern führt Steinbrück, der aus der Generationenerfahrung eines 59-Jährigen argumentiert, eine Debatte von gestern.