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Archiv-Artikel

Unkontrollierte Wutanfälle

betr.: „Eine Art Turbofeudalismus“ von Mathias Greffrath, taz vom 15. 1. 03

Nein, keineswegs sind Sie der Einzige, Herr Greffrath, den „unkontrollierte Wutanfälle packen“! Ich teile sie vollkommen und sicher Scharen anderer mit uns.

Nicht nur konnte man in den Siebzigern und Achtzigern Briefe am Nachtschalter der Post im Bahnhof Zoo über Nacht nach Westdeutschland befördern, die Post wurde zweimal täglich ausgetragen! Heute fällt sie mehrere Tage ganz aus, wenn der Briefträger erkrankt, weil es ja keine Vertretung mehr gibt. Dabei gäbe es genügend Menschen, die sich mit solchen Jobs ihre Existenz erhalten könnten. An meinem Riesenpostamt, das erst ein Jahrzehnt zuvor kostenaufwändig mit öffentlichen Geldern in Neogotik restauriert worden war, stand – ohne Vorwarnung – eines Tages im vergangenen Jahr, als ich ein Päckchen abliefern wollte, ein Schild wie ein Werbeplakat „Neue Nachbarschaft, Schildhornstr. Nr. …“, das Ganze einen Kilometer weiter, ohne Begründung, ohne nähere Information; und noch immer sehe ich Leute genauso ratlos davor stehen, wie ich es damals tat. Auf meine schriftliche Kritik erhielt ich niemals eine Antwort. Das ist für mich der eigentliche Skandal: dass die Zuständigen so tun, als wäre dies ein völlig selbstverständlicher, normaler Vorgang, als bräuchte es gegenüber den BürgerInnen keinerlei Erklärung, wenn wesentliche Dienste reduziert oder abgeschafft werden.

Die Beispiele ließen sich zahlreich fortsetzen. Das noch Schlimmere aber finde ich, wenn Menschen, Freunde, KollegInnen dies dann auch noch so hinnehmen und sich den Talkshow- und Geschwätzigkeitsbegründungen anschließen, statt zu kämpfen, wie Sie es vorschlagen, um die Kostbarkeit und Erhaltung dieses Sozial- und Demokratiestaates, wie ihn Bettina Gaus in der taz am 9. 1. 03 so treffend in seinem Gehalt beschrieben hat („Diffamierung wird salonfähig“).

[…] Von den Politikern ist offensichtlich nichts zu erwarten – sie spielen ihr Kasperltheater mit „Lügenausschuss“ etc., ohne dass sie von uns dazu legitimiert wurden. Sie spüren nicht, was große Teile der Bevölkerung zutiefst bewegt, nämlich – siehe oben – den schleichenden Abbau von Kulturgütern und Demokratie, die Privatisierung von Wasser, Bildung etc., die Aushebelung der bundesdeutschen Verfassung und der UN-Charta (Verbot von Angriffskriegen) im wahrscheinlichen Irakkrieg und alle möglichen Folgewirkungen daraus für die gesamte Welt.

FRIDBURG THIELE, Berlin