Universelle Bildungskunst: Nie wieder schulfrei!
Mit dem Festival "Bremen lernt!" erhebt die Schwankhalle Einspruch gegen das Prinzip lustfreier Bildung und beantwortet die Frage, was wir wissen wollen: alles natürlich
Schulferien - wie schrecklich. Jetzt haben die schon wieder begonnen, überall in Niedersachsen und auch in Bremen, wo sich nur eine kleine Institution noch gegen den verordneten Müßiggang sperrt. Das wird kein Dauer-Widerstand, das geht schon Samstag zu Ende, aber noch gibts Unterricht: Nachdem am Freitag Chansonnier Tim Fischer die Textiles-Gestalten-Lektion "für alle, die häkeln lernen und durch Handarbeit karitativ werden wollen" erteilt hat, steht heute eine Stunde Sumpfkunde auf dem Plan, also Arminius der Cherusker. Und außerdem, hui!, gibts noch Aufklärungsunterricht! Mit Puppen!
Nein, die Schwankhalle ist keine normale Schule. Sie ist überhaupt keine Schule. Aber die Schwankhalle, die nicht so heißt, weil sie eine hybride Einrichtung ist, sondern weil hier früher eine Brauerei Fässer reinigte, definiert sich zehn Tage lang als wirklich allgemeinbildende Schule. Sonst ist sie eine Einrichtung, die man als subkulturelles Zentrum bezeichnen würde: performing arts, also nicht dramatische darstellende Kunst, inklusive Tanz und Lesungen, das halt.
Und gerade die haben die Tugenden der Renaissance-Ästhetik neu entdeckt, nämlich dass Kunst - wie Julius Scaliger in den "Libri Septem" anno 1561 prägnant postulierte - ahem: unterhalten soll, ja, bewegen, ja, aber vor allem auch: bilden. Und dass auch Bildung nur gut ist, wenn sie unterhält und bewegt - als Kunst. "Bremen lernt!" heißt das Festival, und um wirklich Schule für alle zu bieten, bezahlt jeder nur so viel, wie er kann. Oder mag.
Da musst du natürlich hin. Also noch einmal den Ranzen packen: Stifte, Fußballbildersammelalbum und, aus Nostalgie, ein paar Bücher. Nostalgie und Schule gehören nämlich zusammen: Folglich sorgen im Foyer Requisiten aus dem Schulmuseum fürs Ach-ja-damals-Ambiente. Der Hausmeister sammelt Geld für die "Klassenkasse", Original-Matschbrötchen sind erhältlich, es gibt Erdbeermilch, alles ganz wie in echt, außer dass auch Alkoholisches als Pausengetränk erlaubt ist. Aus Kinderlärmzuspielungen erhebt sich die Schulklingel, die Pausenaufsicht bittet einzutreten, in Zweierreihen.
Das spielt ins Karikaturhafte - muss es ja: Es geht auch darum, das, was die Schwankhalle sonst so macht, als Bildungsarbeit zu markieren. Was das heißt? Gehen wir mal zur Ernährungskunde der Gruppe Post Theater, da wird es verständlich: Hiroko Tanahashi und Max Schumacher präsentierten am Donnerstag eine kultur-ökonomiehistorische Recherche zum Thema Fisch. Und das in der Form, die Didaktiker als Unterrichtsgespräch bezeichnen: Sie lassen Fragen zu, während sie von ihrer Reise über Dänemark und Island nach Japan berichten. Unternommen haben sie die für ihre "Fish Tales"-Performance, die tags darauf zu sehen ist: Spätmittelalterliche Verbote, seine Knechte zu oft mit Fisch abzuspeisen, werden da erläutert, die Geburt der Hanse aus dem Drang zur verbindlichen Heringsfass-Norm erklärt, auch das Schwinden von Frischfisch aus Dänemarks Einzelhandel - und wie Japan nach dem Zweiten Weltkrieg Appetit auf Thunfisch bekam. Tanahashi und Schumacher vermitteln das Wissen, das ihre szenische Ätiologie des Fischstäbchens erfahrbar, erlebbar macht.
Am heutigen Samstag endet die Schwankhallen-Schulzeit. Aber der Stundenplan enthält noch drei Pflicht- beziehungsweise Wahlpflichtveranstaltungen.
Sumpfkunde: Unterricht für alle, die lernen wollen, wer "Hermann" der Cherusker war, erteilen Stephan Lohse und Christian Pfütze ab 19 Uhr
Sozialkunde: Unterricht für alle, die lernen wollen, wie man in der Unterschicht lebt, gibts ab 19 Uhr von Julia Friedrichs, Eva Müller und Boris Baumholt
Sexualkunde: Unterricht für alle, die noch nicht aufgeklärt sind gibt Das Helmi ab 20.30 Uhr
Schwankhalle, Buntentorsteinweg 112 , Bremen. Weitere Infos: www.schwankhalle.de.
Aber "erleben", "erfahren" - das sind Disziplinen, denen wir misstrauen. Und Bühnenkunst als Wissensvermittlung wahrzunehmen, das haben wir verlernt. Gerade drum setzt "Bremen lernt!" nicht auf die Form, sondern auf die Inhalte der Wissensvermittlung. Inhalte der besonderen Art. Zum Beispiel: "Unterricht für alle, die peitschen lernen wollen". Da weist unsere Allgemeinbildung ja leider dort oft eine Leerstelle auf. Wie gerne hätten wir schon einmal … Nun, Peitschen wird unterrichtet von Cowgirl Maren Strack. Und beginnt mit - Frontalunterricht.
Die Performance-Künstlerin Strack ist derzeit Gastprofessorin an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, "Raumstrategien" heißt ihr Fach. Und ihr frappierendstes Strategem ist: das Peitschen. In der Schwankhalle zeigt sie nun, wie das geht, Angst-Lust schürende Geräusche mit einem Lederriemen zu erzeugen. Und sie erklärt, welche Gesetze die Physik sich ausgedacht hat, damit das nicht nur in der US-Prärie gelingt, sondern sogar hier am Buntentorsteinweg: die Peitschenspitze beschleunigt in weniger als einer Sekunde auf über 2.000 km/h und durchbricht somit locker die Schallmauer. So viel zur Theorie.
Zum Peitschensport erschienen sind nun keine Viehzüchter oder Indiana-Jones-Freaks, sondern, mit einer Ausnahme, Frauen und Kinder. Ein paar Konzentrations- und Lockerungsübungen, schon wird die einschwänzige Bullwhip ausgeteilt, und Knallerei nach Flamenco-Art vorgeführt: innerlich erregt, äußerlich stolzgerade, kurz zuckt der Arm, kleine Handdrehung - wenig Kraft, viel Eleganz. "Forward Cracks!", fordert Strack, und schon lärmts kakophon durch den Saal. Ohrenstöpsel, auch gegen "Aua!"-Schreie: Einige erleben ihre Peitsch-Premiere als Selbstgeißelung. Fleischwunden werden der anwesenden TV-Kamera präsentiert: Jede Kommunikation kann scheitern, selbst die mittels Peitsche. Es besteht also Lernbedarf. Denn wenns klappt - fühlt sich das gut an, stark, und macht selbstbewusst. Das ist doch ein Erziehungsziel.
Besondere Defizite hinterlässt die institutionelle Bildung im Körpergefühl. Klar liegt das am großen abendländischen Kontext, lange kennen wir die Leibfeindlichkeit der Neuzeit, Descartes ist schuld, Nietzsche hat uns das beigebracht. Überwunden haben wir sie nicht. Selbstverständlich ist Körper ist heute zugelassen - aber nur sportiv, also leistungsfixiert. Das Schwankhallen-Kollegium hat deshalb mehrere Körpererfahrungsstunden ins Curriculum aufgenommen: Kuscheln am Mittwoch, Spüren am Donnerstag. Allerdings: Bremens öffentlich-rechtliches Fernsehen will mitkuscheln. Die Aussicht wiederum, zum Statisten eines journalistischen TV-Spotts zu werden, lässt die Lust abebben. Da melden wir uns krank.
Dagegen am Donnerstag -
könnte sein, dass es nur ein Tippfehler war. Auch möglich, dass Martin Clausen mit Voyeurismus gespielt hat: Der Ankündigung zufolge gibt er einen Kursus "für alle, die den männlichen Körper noch nicht gut genug kennen" gegeben - darüber ein Bild: Clausen. Nackt.
In Wahrheit trägt er Jeans, T-Shirt, Dreitagebart und sogar Schuhe. Er tritt als der auf leise Art autoritäre Pädagoge auf, steht neben dem Pult, blickt traurig so lange in die Klasse, bis schlechtes Gewissen das letzte Tuscheln erstickt. Dann lässt er Bildchen austeilen, verbreitet Hektik, Wissensfragen, Gewissensfragen, quittiert Antworten durch ungeduldig lauerndes "Ja! Und?!"
Es wird im Weiteren nur um den menschlichen Körper gehen - geschlechtsneutral - und darum, diese Stress-Blockaden zu lösen: Gelenkkreisen, Frei-Schnaps, Fallübungen, sich gegenseitig durch den Saal stoßen ("Ihr fliegt!"), knurrend ausatmen ("spürt die Bestie!") Albern? Klar - wenn albern ein anderes Wort ist für: befreiend.
Ein Festival ist nie eine Revolution. Aber es kann Wahrnehmungen schärfen und Einspruch erheben. "Bremen lernt!" tut das: Es erhebt Einspruch gegen das Prinzip einer institutionalisierten Bildung, die vor allem als Instrument sozialen Ausschlusses Erfolg hat - und Unterricht nur als lästige Pflicht kennt. Könnte es sein, dass die Frage, was wir lernen wollen, die zugleich wichtigste und verdrängteste für Schule wäre? "Bremen lernt!" macht sie sichtbar. Und hat sie exemplarisch beantwortet: Ja,!, das!, das alles wollen wir lernen.
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