Unistreik in Österreich: Die Wut-im-Bauch-Aktion
In Österreich demonstrieren deutsche Studenten gegen das Bildungssystem – für manche Österreicher sind sie Teil des Problems.
Vormittag im Audimax. Mehr als zwei Wochen ist es her, dass Studenten den größten Hörsaal der Uni Wien in Beschlag genommen haben. Einige wenige halten die Stellung - schließlich muss ein besetzter Hörsaal durchgehend besetzt sein. Sie basteln "Uni brennt"-Buttons und rufen wieder einmal zum Aufräumen auf. In der Volxküche wird veganes Müsli ausgeteilt, und in einem mit Zetteln übersäten Nebenraum sitzt Barbara an einem weißen MacBook und kümmert sich um die Pressearbeit der Besetzer. Barbara ist 24 - und Deutsche.
Vor vier Jahren ist die Publizistikstudentin aus München nach Österreich gekommen. In ihrer Heimatstadt hätte sie für ein Medienstudium einen Notenschnitt von 1,3 bis 1,4 gebraucht - und hat sich gar nicht erst beworben. Dass sie stattdessen nicht nach Norddeutschland, sondern nach Wien ging, lag daran, dass ihr "die Weltstadt einfach lieber" war.
Wenngleich es mit den Bedingungen an ihrem Wiener Institut nicht gerade zum Besten steht. "Zu viele Studenten, zu wenige Lehrende, zu wenig Angebot." Sie habe Kollegen, die ihr Studium nicht abschließen konnten, nur weil ihnen ein einzelnes Seminar gefehlt habe. "Einige sind wirklich böse in der Bredouille." Am ersten Tag hatte sie die Proteste gegen die Studienbedingungen noch via Facebook und Twitter verfolgt und es faszinierend gefunden, wie "aus nichts so etwas Basisdemokratisches entsteht". Da wollte sie nicht nur zusehen. Seither ist die Deutsche live dabei, wie Österreichs Studenten für internationale Schlagzeilen sorgen.
Dass sie das überhaupt tun, daran sind deutsche Studenten wie Barbara freilich nicht ganz unbeteiligt. Österreichs Universitäten sehen sich einem nie da gewesenen Ansturm von Studierenden gegenüber. 300.000 dürften es mit Ende der Zulassungsfrist sein, um 60.000 mehr als im Vorjahr. Eine Zahl, der die vorhandenen Kapazitäten und finanziellen Mittel nicht gewachsen sind, sagen die Uni-Rektoren. Den sprunghaften Anstieg erklärt man sich im Wissenschaftsministerium mit dem Wegfall der Studiengebühren - und dem Andrang der Studenten aus dem nördlichen Nachbarland. Schon ist von einer "neuen deutschen Welle" die Rede: Mittlerweile sind 7 Prozent aller in Österreich Eingeschriebenen Deutsche, das Land ist für deutsche Auslandsstudenten zweitbeliebtestes Zielland nach den Niederlanden.
Besonders betroffen sind die Medizin-Unis (an denen eine EU-rechtlich fragwürdige Quotenregelung die Plätze für Studenten aus EU-Ländern auf 20 Prozent beschränkt) und die grenznahen Hochschulen: An der Uni Innsbruck studieren momentan gut 10 Prozent Deutsche, an der Universität Salzburg 15 Prozent. Im Fach Psychologie stellen sie gar zwei Drittel der Studienanfänger. "Wir werden immer mehr zur bayerischen Universität", klagte Salzburgs Rektor Heinrich Schmidinger.
Noch-Wissenschaftsminister und designierter EU-Kommissar Johannes Hahn (ÖVP) nutzte die Gelegenheit, um den sogenannten Notfallparagrafen im neuen österreichischen Universitätsgesetz zu aktivieren: Dieser erlaubt, in all jenen Fächern, die in Deutschland Beschränkungen unterliegen, auch in Österreich die Zahl der Plätze zu beschränken. Erste Anträge wurden von Universitäten bereits gestellt.
Hier von einem "Notfall" zu sprechen, geht an den Tatsachen allerdings etwas vorbei. Denn die Zahlen der deutschen Studenten in Österreich steigen seit Jahren kontinuierlich. Studierten im Wintersemester 2000 noch 6.354 Deutsche in Österreich, zählte man im Wintersemester 2008 bereits 17.432, also fast dreimal so viele. Der neue Höchststand ist da keine Überraschung. An nachhaltigen Lösungen, wie man mit dem offenen europäischen Hochschulraum umgehen könnte, hat in dieser Zeit keine Regierung wirklich gearbeitet.
Außerdem: Schon 1996 und 2001 gab es in Österreich große Unidemonstrationen - damals war der Anteil der deutschen Studenten noch deutlich geringer. Seither haben sich die Verhältnisse an den Hochschulen kaum verbessert. Österreichs Unis sind seit Jahren chronisch unterfinanziert. Laut EU-Empfehlung sollten 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in höhere Bildung investiert werden. Mit 1,2 Prozent liegt Österreich gerade einmal über der Hälfte.
Dazu kommt, dass sich 60 Prozent der Studienanfänger für 10 Prozent der Fächer entscheiden, bemängelt Wissenschaftsminister Hahn. Zwar lieben auch die Deutschen gerade jene Fächer; das verschärft aber nur ein bereits existierendes Problem. Hörsäle sind überfüllt, Betreuungsverhältnisse katastrophal. An der Wiener Publizistik müssen sich 400 Studenten einen Professor teilen. Mitunter drängen sich 1.300 Hörer in einer Vorlesung - und das, wo selbst das besetzte Audimax gerade 750 Menschen fasst.
Dennoch: Die Demonstranten hüten sich davor, ihre deutschen Mitstudenten zu Sündenböcken zu machen. "Freie Bildung für alle" ist die Devise - auch für die Nachbarn aus dem Norden. "Das deutsche Unisystem bedeutet für ein so kleines Land wie Österreich zwar schon ein Problem", meint ein 24-jähriger Salzburger, die Studenten selbst treffe aber keine Schuld. "Wir würden auch flüchten."
Tatsächlich proben die Studenten den internationalen Schulterschluss. Viele deutsche Studenten gehen kurzerhand mit den Österreichern auf die Straße. "Wir sind hier, um uns solidarisch zu zeigen", sagt die 23-jährige Stefanie aus Bayern, die in Wien Psychologie studiert und mit deutschen Mitstudenten zur Großdemo gekommen ist. "Weil es uns genauso angeht", ergänzt Gloria, 24, aus Nordrhein-Westfalen. "Außerdem arbeiten wir ja auch hier und zahlen Steuern", erklärt Stefanie ihr Recht auf Protest. Um gleich darauf für die Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes einzutreten, von dem sie gerade gehört hat. Andere hier kritisieren das neue Bachelor-Mastersystem, das zu Verschulung führe und mit seinem Fokus auf wirtschaftliche Verwertbarkeit die Freiheit der Wissenschaft bedrohe. Oder fordern für die Unis mehr Demokratie und weniger Frauenfeindlichkeit.
Manchen geht es dabei gar nicht um die Uni an sich. Den 24-jährigen Salzburger Stefan, der beim Sternmarsch die wummernden Bässe zu übertönen versucht, stört zwar auch, dass an seiner Fachhochschule von 40 Bachelorstudenten im Bereich "Erneuerbare Energietechnologie" nur 10 ein Masterstudium anhängen dürfen, mehr noch als das prangert er aber an, dass sich trotz Wirtschaftskrise am "System" nichts geändert habe. "Wir wollen, dass es endlich einen Umbruch gibt."
Auch wenn die Demonstranten mittlerweile ernste Ermüdungserscheinungen zeigen: Ein Ende der Proteste ist vorerst nicht in Sicht. Zumal nicht einmal klar ist, welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssten. "Ein konkretes Ziel war von Anfang an nicht da", meint einer der Audimax-Besetzer. "Es war eine einzige große Wut-im-Bauch-Aktion." Diese Woche wollen die Studenten wieder auf die Straße gehen. Und: Schützenhilfe ist bereits im Anrollen. Seit Montag sechs Uhr ist ein Unterstützungskonvoi aus Studierenden der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel auf dem Weg nach Österreich.
Der Start am 9. November ist dabei kein Zufall: Genau 42 Jahre ist es her, dass am 9. November 1967 Hamburger Studenten dem "Muff von 1000 Jahren" den Kampf ansagten. Auf dem Weg von Kiel ins Wiener Audimax will der Konvoi an mehreren deutschen Hochschulen Halt machen - um auf den Protest der Österreicher aufmerksam zu machen, und gleichzeitig auch die "desolaten Zustände" an deutschen Hochschulen anzuprangern. Außerdem werden Carepakete für die Wiener Kommilitonen gesammelt: mit Kaffee, Schokolade, Zeitschriften, Gemüse und Toilettenpapier - eben allem, "was das BesetzerInnenherz begehrt".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid