: Union im Wartestand
Angela Merkel verhandelt samthart, um die EU-Verfassung zu retten. Doch um sich auf einen brauchbaren Text zu einigen, ist die Kluft zwischen Europas Regierungen zu tief
Daniela Weingärtner berichtet seit 1999 für die taz aus Brüssel und hat die Verfassungsdebatte in der EU intensiv verfolgt. Die Entwicklung der EU analysiert sie schon seit ihrer Zeit beim „Europamagazin“ des Südwestfunks vor 20 Jahren.
Natürlich ist es kein schöner Anblick, wenn ältere Herren in Anzug und Krawatte mit den Fäusten aufeinander losgehen. Noch dazu, wenn das Gerangel im nationalen Parlament in Ankara stattfindet. Dort wird gerade über eine Verfassungsänderung debattiert, und einige Parlamentarier sehen die Grundfesten der türkischen Republik wanken.
Ähnliche Szenen wären im Europaparlament oder in nationalen Abgeordnetenhäusern bei der Ratifizierung der EU-Verfassung undenkbar. Nicht weil die europäischen Politiker besser erzogen sind, sondern weil niemanden das Thema aufregt.
Schon 2004 verfolgte nur eine Minderheit die Entwicklung vom missglückten Nizzavertrag über den EU-Konvent bis zur abschließenden Konferenz der Regierungen. Abgesehen von Holland und Frankreich, wo einige Wochen eine europapolitische Debatte ausgetragen wurde, bevor die Wähler im Referendum mit Nein stimmten, gingen auch die Volksabstimmungen und parlamentarischen Ratifizierungen des neuen Textes sang- und klanglos über die Bühne.
Wo hätte die Leidenschaft auch herkommen sollen. Die Debatten im EU-Konvent, der den neuen Text formuliert hatte, waren nur für Fachleute verständlich gewesen. Gruppen der Zivilgesellschaft, die ihre Vorschläge zunächst eifrig eingebracht hatten, stellten ernüchtert fest, dass sie zwar mitreden, aber nicht mitentscheiden durften. Und der Konvent, der durch seine Zusammensetzung aus nationalen und europäischen Parlamentariern eine gewisse Legitimität beanspruchte, behielt ebenfalls nicht das letzte Wort. Am Ende beugten sich die Regierungschefs hinter verschlossenen Türen über den Text und strichen einige demokratische Neuerungen und manch kühnen Denkansatz wieder heraus.
Was in den vergangenen zweieinhalb Jahren auf Raten zu Grabe getragen wurde, war also zu keinem Zeitpunkt ein Verfassungstext. Trauer ist dennoch angebracht. Denn der Vertragsentwurf, den am 29. Oktober 2004 in Rom die damals 25 Regierungschefs der EU plus die drei Kandidaten Bulgarien, Rumänien und Türkei unterzeichneten, machte die EU deutlich zukunftsfähiger als alles, was in den kommenden Monaten in zähen Verhandlungen zu erreichen sein wird.
Der europäische Außenminister, die eigene Rechtspersönlichkeit, die es der EU ermöglicht, völkerrechtliche Verträge zu schließen, das vereinfachte Abstimmungsverfahren, die gestärkte Rolle des EU-Parlaments, die Mitsprache der nationalen Parlamente und die Einführung eines europäischen Volksbegehrens – all das hätte die EU im Inneren ihren Bürgern näher gebracht und sie nach außen gestärkt.
In diesen Punkten, die bereits Ergebnis mühsamer Abstimmungsprozesse sind, drohen nun weitere Abstriche. Denn die EU, die zum Zeitpunkt des Verfassungskonvents aus 15 Mitgliedern bestand, ist heute beinahe doppelt so groß. In vielen osteuropäischen Ländern sind EU-feindliche Regierungen gewählt worden. In Großbritannien wird der Europa sehr zugewandte Tony Blair demnächst vom Euroskeptiker Gordon Brown abgelöst. Und Hollands Premier Jan Peter Balkenende machte jüngst vor dem Europaparlament klar, dass er alle Vertragselemente ablehnen wird, die auch nur entfernt den Gedanken aufkommen lassen, die EU solle eine eigenständige politische Identität erhalten.
Auf wen also kann Angela Merkel zählen, wenn sie das von ihr formulierte Ziel in Angriff nimmt, die Substanz der Verfassung zu retten und dafür bis zum nächsten EU-Gipfel Ende Juni die entscheidenden Weichen zu stellen? Italiens Regierungschef, der ehemalige Kommissionspräsident Romano Prodi, hat sich vor kurzem in einer Rede vor den EU-Parlamentariern in Straßburg als glühender Fan der EU-Verfassung geoutet. Spanien und Luxemburg, wo die Bevölkerung den Text in Volksentscheiden angenommen hatte, möchten ebenfalls keine gravierenden Abstriche daran hinnehmen.
Wenig Konkretes erfährt man aus Irland, Schweden und Finnland. Frankreichs neuer Präsident Nicolas Sarkozy erweckt zwar gern den Anschein, er habe den alle Gegensätze überbrückenden Text schon in der Tasche. Doch schaut man sich seine Vorschläge zu einem „vereinfachten Vertrag“ genauer an, dann beschränken sie sich darauf, die Spielregeln der Zusammenarbeit so umzugestalten, dass im Kreis der 27 Mitgliedstaaten überhaupt wieder Entscheidungen getroffen werden können.
Angela Merkel, der samtharten Dompteuse einer großen Berliner Koalition, werden in den Nachbarländern Wunderdinge zugetraut. Der Mythos der derzeit mächtigsten Frau der Welt, die mit naturwissenschaftlichem Verstand und freundlicher Beharrlichkeit ein Hindernis nach dem anderen aus dem Weg räumt, wird der deutschen Ratspräsidentschaft großen Vorschusskredit verschaffen. Sie wird in zähen Einzelgesprächen das eine oder andere Zugeständnis erreichen, das einer schwächeren Präsidentin aus einem kleineren Land nicht gemacht würde. Doch Ende Juni endet ihre Amtszeit. Die Feinarbeit am Vertragstext fällt dann dem kleinen Land Portugal zu.
Zwischen dem glühenden Europäer Romano Prodi, dem kühlen Manager Nicolas Sarkozy und dem gegenüber allen europäischen Neuerungen zutiefst misstrauischen Lech Kaczyński aus Polen gibt es keinen gemeinsamen Nenner, der über den derzeit geltenden Vertrag von Nizza hinausgeht. Die Mitgliedstaaten werden in den nun anstehenden Verhandlungen ein weiteres Mal ihre Zerstrittenheit demonstrieren. Das Ergebnis wird dazu führen, dass die Union auf Jahre hinaus gelähmt bleibt. Die Bürger werden das dadurch quittieren, dass sie auch in der kommenden Europawahl 2009 das EU-Parlament mit Nichtachtung strafen.
Die Regierungschefs hatten den EU-Konvent ursprünglich eingesetzt, um Europa den Bürgern wieder näher zu bringen. Dieses Ziel wird auch im zweiten Anlauf beim Gipfel Ende Juni verfehlt werden. Dann werden die Regierungen, die die politische Lähmung des wirtschaftlich stärksten Kontinents der Erde für inakzeptabel halten, nach neuen Wegen suchen. Romano Prodi hat es gegenüber dem Europaparlament schon angekündigt: Wenn sich einige Länder der weiteren Integration konsequent verweigern, muss es eben ohne sie weitergehen. Die praktischen Fragen, die dabei auftreten, sind allerdings knifflig. Wie soll das Europaparlament in einer EU der zwei Geschwindigkeiten seine Arbeit tun? Nimmt es seine neuen, erweiterten Kompetenzen in einem Sonderausschuss wahr, in den nur diejenigen EU-Mitglieder Abgeordnete entsenden, die der engeren Union beigetreten sind?
Eins ist sicher: Die EU wird eine Zeit lang noch schwerfälliger, noch komplizierter und in ihren Strukturen undurchschaubarer werden. Das bessert sich erst, wenn die auf dem Stand von Nizza zurückgebliebenen Länder sich entschieden haben, ob sie der erneuerten Union beitreten wollen oder die EU ganz verlassen. DANIELA WEINGÄRTNER