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Uni-Proteste in der TürkeiProzess beginnt mit Haftentlassung

In Istanbul hat ein Prozess gegen Studierende der Boğaziçi-Uni begonnen. Sie hatten gegen die Einsetzung Erdoğan-treuer Rektoren demonstriert.

Jahrestag der Proteste gegen die Einmischung Erdogans an der Boğaziçi-Uni am 4. Januar Foto: Kemal Aslan/reuters

Istanbul taz | Zwei Jahre nach Beginn der Proteste an der renommierten Istanbuler Boğaziçi-Universität hat ein Prozess gegen 14 Studierende begonnen, die wegen öffentlichen Aufruhrs und anderer Delikte angeklagt sind. Seit Januar 2020 protestieren der größte Teil der Studierenden und fast alle DozentInnen Universität dagegen, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan ihnen zwei Rektoren vor die Nase gesetzt hat, die nicht von den Universitätsgremien gewählt wurden, sondern vor allem die Interessen der Regierung vertreten.

Zwei der 14 Angeklagten saßen in den letzten drei Monaten in U-Haft. Am Ende des ersten Verhandlungstages am Freitag gab der Richter einem Antrag der Verteidiger auf Haftentlassung der beiden Studenten statt.

Am 4. Januar vor zwei Jahren hatte der Protest gegen die politische Bevormundung einer der letzten Bastionen der Meinungsfreiheit und der freien Forschung in der Türkei begonnen. Zum Jahreswechsel 2019/20 hatte Erdoğan beschlossen, entgegen der bisherigen Praxis der Universität, ihren Rektor selbst zu wählen, einen Uni-Chef nach seinem Geschmack einzusetzen. Der neu eingesetzte Rektor Melih Bulu war ein ehemaliger Abgeordneter der Regierungspartei AKP.

Studierende und DozentInnen verweigerten die Zusammenarbeit mit ihm. Da die Proteste gegen Bulu die Universität de facto lahmlegten, entließ Erdoğan im August 2021 zwar Bulu von seinem Posten, setzte aber – erneut per Dekret – dessen bisherigen Stellvertreter Naci İnci auf den Rektorenposten. Seitdem gehen die Proteste weiter wie zuvor gegen Bulu.

Aufs Autodach gestiegen

Im Laufe der letzten zwei Jahre sind hunderte Studierende im Zuge der Proteste festgenommen und teilweise mehrere Tage in Polizeihaft festgehalten worden. Vier Dozenten wurden entlassen. Sowohl auf dem Campus als auch bei Demonstrationen in der Stadt ging die Polizei teilweise sehr brutal vor.

Die 14 Studierenden, die nun vor Gericht stehen, hatten sich im Oktober an einer Protestaktion gegen Rektor İnci beteiligt. Sie versuchten, ihn auf dem Campus zu einem Gespräch zu bewegen, als er im Auto das Gelände verlassen wollte. Dabei soll der Student, der anschließend in U-Haft saß, auf das Dach des Autos gestiegen sein.

İnci stellte Strafanzeige wegen Freiheitsberaubung und Nötigung, die Staatsanwaltschaft fügte noch einige Delikte wie Zerstörung öffentlichen Eigentums und Aufruhr hinzu. Erdoğan persönlich denunzierte die Studierenden bei mehreren Auftritten als „Terroristen“, die die Universität infiltriert hätten.

Die beiden inhaftierten Studenten Ersin Berke Gök und Caner Perit Özer studieren Physik bzw. Geschichte. Berke Gök nannte die Vorwürfe bei seiner Stellungnahme im Gericht „lächerlich“. Er sei vor den Sicherheitsleuten des Rektors auf das Autodach geflohen und sein Freund hätte ihm geholfen, als die Sicherheitsleute ihn festnehmen wollten.

Die Anwälte der Studenten argumentierten, die dreimonatige U-Haft sei völlig unverhältnismäßig, denn selbst wenn die Angeklagten schuldig gesprochen würden, müssten sie höchstens mit einigen Monaten Gefängnis im offenen Vollzug rechnen. Am Ende des Prozesstages gab der Richter ihnen Recht und verfügte die Aufhebung der U-Haft.

Erdoğan will die Uni auf Linie bringen

Seit der Niederschlagung der Gezi-Proteste 2013 hat es keinen so lange anhaltenden Widerstand gegen Erdoğan mehr gegeben wie jetzt an der Boğaziçi-Universität. Die Uni gehört zu den drei renommiertesten Hochschulen der Türkei und ist auch international anerkannt. Sie hat viele ausländische Studierende, da die Unterrichtssprache Englisch ist.

Der freiheitliche Geist an der Universität widersprach in den letzten Jahren immer mehr dem zunehmend autoritäreren Regime Erdoğans. Mit der Einsetzung eines ihm genehmen Rektors aus seiner direkten politischen Gefolgschaft sollte als eine der letzten Universitäten des Landes auch die Boğaziçi-Universität auf Linie gebracht werden.

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