: Ungedeckte Luftnummern
BÜCHER ZUR KRISE Robert Skidelsky feiert die „Rückkehr des Meisters“ John Maynard Keynes. Und in John Kenneth Galbraith’ Nachlass fand sich eine Analyse der ewigen Wiederkehr des „finanziellen Schwachsinns“
VON ROBERT MISIK
Als John Maynard Keynes, der größte Ökonom des 20. Jahrhunderts, 1946 starb, erhielt seine Ehefrau, die russische Exprimaballerina Lydia Popokowa, folgendes Kondolenzschreiben: „Er war der eine große Mann, den ich jemals kennengelernt habe und für den ich schrankenlose Bewunderung empfand.“ Der Autor dieser pathetischen Zeilen war, man glaubt es nicht: Friedrich August von Hayek, der Hohepriester der Marktideologie. Kaum jemand hatte so sehr wie Keynes die Vorstellung zerzaust, dass freie, ungeregelte Märkte die allgemeine Wohlfahrt beförderten.
Über Jahrzehnte war Keynes ein toter Hund, aber seit der Kernschmelze an den Finanzmärkten hat er seinen großen Moment. „Die Rückkehr des Meisters“ feiert der große britische Wirtschaftspublizist Lord Robert Skidelsky in seinem neuen Buch. Das handelt von Keynes, seiner Lehre, vor allem aber vom Stand der Wirtschaftswissenschaften nach Keynes. Für die hat Skidelsky kein gutes Wort, sieht er doch „die eigentliche Ursache der gegenwärtigen Krise im intellektuellen Versagen der Wirtschaftswissenschaften“. Die zeitgenössischen Ökonomen haben die Wissenschaft durch mathematische und statistische Modelle ersetzt. Im Wesentlichen liegt darin die Idee zugrunde, dass Wirtschaftssubjekte rational handeln und dass Märkte immer effizient sind.
Getragen ist diese Ideologie vom Glauben an die „Weisheit der Vielen“, dass also die vielen Millionen Urteile, die die Marktteilnehmer treffen, zu optimalen Entscheidungen führen. Mögen in diesen Ideen auch partielle Wahrheiten liegen, so wurden sie ideologisiert bis ins Absurde: mit immer deregulierteren Märkten, immer schnelleren Kapitalverschiebungen und immer raffinierteren Finanzinstrumenten.
Absurd ist das deshalb, weil diese Vorstellungen die Unsicherheit der Wirtschaft überhaupt nicht abbilden können und weil sie Herdentrieb, Paniken, positives Wirtschaftsklima oder Verzagtheit der Investoren nicht in den Griff bekommen, ganz zu schweigen von anderen „Emotionen“, die für die Wirtschaft wichtig sind – etwa dass sich Beschäftigte fair behandelt wissen wollen und sich umso weniger anstrengen, je ungerechter es zugeht.
Keynes ging von der prinzipiellen Instabilität der kapitalistischen Wirtschaft aus und unterstrich, dass staatliche Regulation deshalb besser funktioniert als Laisser-faire. Die neoklassische Mathematikökonomie dagegen ging davon aus, dass man alle Instabilität in Wahrscheinlichkeitsrechnung auflösen könnte. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise hat ihre wesentliche Ursache in dieser Wahnidee. Die Risikorechnungen der Finanzmarktakteure basierten auf der Überzeugung, dass man sich gegen alles versichern kann, so wie man ein Haus versichern kann. Feuerversicherungen allerdings kann man problemlos anbieten, denn wenn ein Haus abbrennt, werden nicht zehn andere Nachbarn in Panik ihr eigenes Haus anzünden. Etwas ganz anderes ist es aber, wenn man das Ausfallrisiko von Krediten berechnet. Geht ein Kreditnehmer bankrott, so reißt er vielleicht einen Geschäftspartner mit in den Keller, gehen viele bankrott, reißen sie viele mit in den Keller.
Genie bis zum Bankrott
Mit Regelmäßigkeiten zu arbeiten, die aus historischen Daten abgeleitet werden, kann nicht funktionieren. Skidelsky dazu: „Keynes hätte gesagt, es sei absurd, sich auf Risikomodelle zu stützen, die auf Zahlen aus der Vergangenheit aufgebaut sind, wenn die Banker jede Woche komplexe neue Finanzprodukte hervorzaubern.“ Der Kollaps der Finanzmärkte hat Keynes wieder einmal recht gegeben. Insofern ist Keynes natürlich ein Krisenökonom, dessen Prestige dann wächst, wenn es schlecht läuft. Selbst die größten Marktfanatiker haben eingesehen, dass nur die Staaten eine Totalkatastrophe verhindern können.
Möglicherweise sind die Dinge so simpel: Auch die Wirtschaftswissenschaft folgt Moden und verstärkt sie. Schön illustriert das das neue, erstmals auf Deutsch erschienene Buch des legendären, 2006 verstorbenen amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers John Kenneth Galbraith. Wäre die Sache nicht so ernst, müsste man sagen: Sie liest sich vergnüglich, „Die kurze Geschichte der Spekulation“ von Galbraith. Vom großen holländischen Tulpenschwindel des 17. Jahrhunderts über die Investitionseuphorie des Südseehandels, von der Eisenbahnblase des 19. Jahrhunderts bis zu den großen Börsencrashs des 20. Jahrhunderts findet sich immer das gleiche Muster: Menschen sind fasziniert von der Fantasie des schnellen Geldes. Wer auf Finanzmärkten großen Reichtum anhäuft, wird schnell als geistige Kapazität angesehen. Wer dagegen vor den ungedeckten Luftnummern warnt, gilt als altmodisch, weil er die innovative Kraft der neuen Investitionsmöglichkeiten nicht versteht. Und doch, formuliert Galbraith, erweist sich immer wieder aufs Neue: „Finanzgenies sind Genies bis zum Tag des Bankrotts.. Platzen die Blasen, setzt der große Katzenjammer ein, verblasst die Erinnerung, dann gibt es wieder den „Rückfall in den finanziellen Schwachsinn“. Und dann werden „die Dummen wieder von ihrem Geld befreit“.
Finanzinstitutionen wie Banken und Fonds sind prinzipiell nichts Schlechtes. Die Kreditschöpfung durch Banken hat dazu geführt, dass Unternehmer Geld zur Verfügung haben, gute Ideen zu verwirklichen. Erst das machte in den letzten 3.000 Jahren den exponentiellen Anstieg des Wohlstands möglich. Aber je raffinierter die Produkte, je globaler die Geschäfte, je höher der „Leverage“, also das Spekulieren mit geliehenem Geld, umso größer die Anfälligkeit für einen brutalen Crash. Von Ende der 1940er- bis in die 1970er-Jahre herrschte ein System, das sich an Keynes’ Ratschlägen orientierte. Banking war langweilig, ganz anders als das nervenzerfetzende Gezocke unserer Tage. Die Wachstumsraten lagen damals bei durchschnittlich 4,8 Prozent. Seit den Deregulierungswellen ab den späten 1970er-Jahren liegen sie bei 3,2 Prozent.
Eine Differenz von 1,6 Prozent mag gering erscheinen, doch wäre, rechnet Skidelsky vor, „die Weltwirtschaft von 1980 bis heute um 4,8 Prozent jährlich gewachsen anstatt um 3,2 Prozent, wäre ihr Volumen heute um 50 Prozent größer“. Und dabei ist der „aktuelle wirtschaftliche Einbruch in dieser Rechnung noch gar nicht berücksichtigt“.
Manchmal, erinnert der weise John Kenneth Galbraith, haben Finanzcrashs auch eine positive Seite. Der von 1929 hatte eine „heilsame Wirkung“, weil er „im finanziellen Gedächtnis haften“ blieb. Die Bürger misstrauten einige Jahrzehnte Börsen und Anlageberatern, und die Politik modellierte eine Welt nach Keynes’ Vorschlägen. Ob 2008 auch einmal eine solche Signifikanz erhalten wird wie 1929? Nun, was die heilende Seite der Sache betrifft, wäre es zu hoffen.
■ Robert Skidelsky: „Die Rückkehr des Meisters. Keynes für das 21. Jahrhundert“. Aus dem Englischen von Ursel Schäfer. Kunstmann Verlag, München 2010, 288 Seiten, 19,90 Euro■ John Kenneth Galbraith: „Eine kurze Geschichte der Spekulation“. Aus dem Englischen von Wolfgang Rhiel. Eichborn Verlag, Frankfurt 2010, 128 Seiten, 14,95 Euro