: Unerwünschte Kinder leiden ihr Leben lang
■ Psychosomatische Krankheiten, Delinquenz, plötzlicher Kindstod: Folgen wissenschaftlich bekannt / Nur: Niemand redet darüber
Fast die Hälfte aller Schwangerschaften in der Bundesrepublik sind nicht gewünscht. Ein Drittel der Frauen, die ihre unerwünschte Schwangerschaft ausgetragen haben, bedauern noch nach der Geburt, daß sie nicht haben abtreiben können. Viele dieser Frauen gestanden sich (und sie befragenden Wissenschaftlern) massive Haßgefühle gegen das unerwünschte Kind ein.
Bei emotionaler Ablehnung der Schwangerschaft treten während der Schwangerschaft und der Geburt eher Komplikationen auf. Die Neugeborenen aus abgelehnten Schwangerschaften sind auffälliger oder gestörter als die aus nicht abgelehnten Schwangerschaften. Unerwünschte Kinder sind in besonderem Maße der Gefahr ausgesetzt, im ersten Lebensjahr zu sterben. Das Leiden unerwünschter Kinder tritt als psychische Störung, Delinquenz, soziale Unangepaßtheit, als psychosomatische Krankheiten und wahrnehmbare Beziehungsprobleme auf. Von (untersuchten) mißhandelten Kindern waren 66% unerwünscht. Unerwünschte Jungen sind zeitlebens benachteiligter als Mädchen; wahrscheinlich, weil die Mütter ihre negativen Gefühle auf die Welt der Väter auf sie übertragen. Rund 1.000 Forschungsarbeiten verschiedenster Disziplinen haben sich in den letzten Jahrzehn
ten mit dem Leben unerwünschter Kinder beschäftigt. Trotzdem ist es einer Frau noch immer nicht erlaubt, ihre ablehnenden Gefühle gegenüber Schwangerschaft und Kind zu thematisieren.
Um dieses gesellschaftspolitische Tabu zu brechen, um Frauen das Darüber-reden-dürfen zu ermöglichen, um Ärzte, Psychologen, Sozialpädagogen, Pfarrer und andere Berater dazu in die Pflicht zu nehmen und um Politikern die Überprüfung ihrer Einstellung zur Politik mit dem ungeborenen Leben, zum § 218 und zur Problematik von Frauen, die zur Mütterlichkeit gezwungen sind, abzuverlangen - aus all diesen Gründen haben Gerhard Amendt und Michael Schwarz ihre neuerschienene Studie „Das Leben unerwünschter Kinder“ gestern der Öffentlichkeit vorgestellt. Die beiden Bremer Wissenschaftler haben per Datenbanken und Computerzugegriffen und 400 Forschungsarbeiten mit Ergebnissen und Erfahrungen aus vier Jahrzehnten ausgewertet und systematisch zusammengefaßt. Alle beteiligten Wissenschaftler stimmen darin überein, daß ein unerwünschtes Kind zeitlebens mit zahlreichen Lebenserschwernissen zu kämpfen hat. Gerhard Amendt betont jedoch auch: „Viele Kinder schaffen es trotzdem, ein nach üblichen Gesichtspunkten 'normales‘ Leben zu ent
wickeln.“ Oft wandle sich auch das Unerwünschtsein während der Schwangerschaft in positive Einstellungen zu dem geborenen Kind. Die Grenze zu dem, was „normal“ ist, sei schwierig zu ziehen, betonen Amendt und Schwarz.
Auch Überbehütung ist eine Folge ungewünschter Schwangerschaft: Sie sind als Versuche von Wiedergutmachung bei Ab
treibungswünsche nund auch aggressiven Gefühlen gegen das Kind zu erklären, - die allerdings dem Kind häufig wahrhaft die Luft nehmen. Typischerweise würden die negativen Gefühle der Mütter (über die Rolle von Vätern liegt keine Studie vor) unerkannt gegen die Kinder gewendet.
Welche Prozesse sich dabei abspielen, und wie sich die Gefühle der Mutter als einer von vielen
Faktoren auf den Fötus auswirken, kann man bisher noch nicht erklären. Pränatale Psychologie versucht sich diesem Feld zu nähern.
Wenn eine Frau das ungeplante Kind austragen muß, dann muß sie jedenfalls auch mit den Folgen fertig werden: Sie darf das Kind nicht töten, darf es nicht verhungern lassen. Sie wird es also füttern, betreuen, umsorgen, erzie
hen - es vordergründig auch akzeptieren. Aber: Das sogenannte „Urvertrauen“ zwischen Mutter und Kind wird sich nicht einstellen. Darüber werden sich dem Kind bedrückende Erfahrungen vermitteln. „Zukurzkommen“ charakterisiert ihr Leben: beim Stillen, in der Erziehung. Es bestimmt aber auch das Leben der Mütter, besonders der ganz jungen.
Auffällig ist auch, daß für nichterwünscht geborene Kinder von alleinstehenden Frauen das Sterberisiko immer noch 17 % höher ist als bei ehelich Geborenen. Der „Risikofaktor Unehelichkeit“ weist darauf hin, daß die gesellschaftliche Diskriminierung von nicht verheirateten Frauen die Lebenschancen ihrer Säuglinge vermindert. Auch sonst sind diese Kinder besonders belastet: auch bei bewußt alleinerziehenden Frauen, wie eine neuere Studie aus Österreich belegt.
Unerwünschte Kinder sind glücksunfähig. Und wenn eine Mutter ihrem Kind irgendwann gesteht, daß es unerwünscht war, wird seine Kindheit plötzlich in grau getaucht. „Frauen müssen in dieser Gesellschaft offen über diese Gefühle reden dürfen“, fordert Amendt. Besonders deswegen, weil negative Verkettungen, die nicht aufgebrochen werden, zum Wiederholungszwang werden.
Birgitt Rambalski
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