Unerwünschte Elite Teach first: Helfer oder Snobs?
Frischer Wind im Kollegium oder elitäre Karrierehäscher: Die Jungakademiker von "Teach First" hospitieren erst in Brennpunktschulen - ehe sie auf Topjobs weiterziehen.
Früher gab es mächtig Ärger, wenn man im Unterricht heimlich Comics gelesen oder Karten gespielt hat. Heute gibt es Lob. Zumindest an der Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule im Berliner Stadtteil Moabit.
Im Englisch-Club mit Michael Schultheiß dürfen Jugendlichen spielerisch eine Fremdsprache lernen. "Die Schüler sollen Englisch nicht nur als Unterrichtssprache sehen", meint der junge Mann. "Man kann sich auch auf Englisch freuen oder ärgern."
Es ist eine der Geschichten, die das deutsche Schulsystem schreibt. Der Lehrerberuf ist auf den Hund gekommen, nur allmählich steigt die Reputation wieder. Außerdem gehen hunderttausende Lehrer in Pension - bis 2020 mehr als die Hälfte der rund 700.000 Lehrer. Aber wenn in NRW, Berlin und Hamburg 63 freiwillige Lernhelfer mit exzellenten akademischen Abschlüssen sich für den Knochenjob in der Schule bewerben, dann gibts gleich was zu mäkeln. Teach First Deutschland (www.teachfirst.de) ist eine Kopie aus den USA und schickt für zwei Jahre Hochschulabsolventen an Schulen, die sich dafür bewerben. Meist als Lernassistenten, nicht selten auch vor der Klasse. Gegen die Ergänzungslehrer wettern nun freilich die Gewerkschafter - weil die echten Anwärtern Job und Gehalt wegnähmen. Letzteres stimmt: Die unheimliche Schulbürokratie bezahlt Teach-First-Leute aus regulären Lehrertöpfen. Studien in den USA zeigen: Teach-First-Leute bringen oft frischen Schwung - und erzielen zum Teil bessere Lernergebnisse bei den Schülern als normale Lehrer. (taz)
Michael Schultheiß leitet die AG neben dem normalen Unterricht. Und macht das, was viele seiner Kollegen kaum schaffen: Er nimmt sich Zeit für seine Schüler. Aber ein normaler Lehrer ist Schultheiß nicht. Er nennt sich "Fellow" und ist einer von 66 jungen Hochschulabsolventen, die erstmals seit dem Schuljahr 2009/2010 an 54 sogenannten Brennpunktschulen in Berlin, Hamburg und Nordrhein-Westfalen im Einsatz sind. Ausgebildet wurden sie von der Initiative Teach First Deutschland. Und zwar für Schulen wie die Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule. Schulen mit Jugendlichen aus benachteiligten Familien. Oft haben sie einen Migrantenanteil von mehr als 50 Prozent.
"Es kann nicht sein, dass in Deutschland die soziokulturellen Unterschiede für den Bildungserfolg so entscheidend sind", ärgert sich Kaija Landsberg. Vor drei Jahren hat sie das Projekt nach dem US-amerikanischen Vorbild "Teach America" gegründet. Ihr Ziel: bessere und gerechtere Bildungschancen für Kinder und Jugendliche. Langfristig strebt Landsberg sogar einen Wandel im Schulsystem an. Mit den Fellows will die 30-Jährige diese Idee umsetzen.
Die hochbegabten Absolventen unterstützen erfahrene Lehrer im Unterricht, engagieren sich in Arbeitsgemeinschaften oder sind Ansprechpartner für die Schüler. Und das zwei Jahre lang. Danach setzen ihre Karriere fort - als Unternehmer, Anwälte oder Politiker. "Vielleicht können sie so auf der Gesellschaftsebene die Schulstrukturen ändern", hofft Landsberg. Die 30-Jährige setzt auf talentierte Menschen - mit außergewöhnlichem Lebenslauf. "Wir wollen Leute mit einer Mischung aus Herz und Verstand - keine Fachidioten", sagt sie. "Leute, die Verantwortung übernehmen können." Denn sie sollen einen Draht zu den Jugendlichen aufbauen.
Rund 770 Absolventen haben sich für das Programm beworben. Einer davon ist Michael Schultheiß. Der 26-Jährige konnte mit seinen persönlichen und akademischen Fähigkeiten überzeugen. Nach seinem Studium der Geschichte, Politik und Soziologie arbeitete er in einem Flüchtlingshilfswerk in Georgien. Aber schon davor leistete er seinen sozialen Dienst in einer dänischen Kirchengemeinde in Kanada ab und führte Schulklassen durch das Deutsche Historische Museum in Berlin. Schultheiß Chef, Schulleiter Jens Großpietsch, ist so angetan von der Arbeit, dass er sich gleich um einen weiteren Teach-First-Hospitanten beworben hat.
Ergänzungslehrer Schultheiß versucht seinen Schülern nicht nur Wissen in Englisch oder Erdkunde zu vermitteln, sondern auch gesellschaftliche Werte. Im Film-Club zum Beispiel. "Wir schauen gesellschaftskritische Filme und reden danach über die Interessen und Probleme der Jugendliche", verrät er. Oft fehle den Schülern ein Ansprechpartner. Dabei versucht Schultheiß die Hektik des Schulalltags abzuschütteln. Doch das gelingt nicht immer. "Von dem Schulsystem wird man schnell absorbiert", bedauert er.
Viel Arbeit!
Ähnliches erlebt auch Johannes Knabe. Der promovierte Informatiker ist einer von zwei Fellows an der Gesamtschule Finkenwerder in Hamburg. "Ich bin überrascht, wie anstrengend der Job ist", gesteht er. Kein Wunder - an der Schule herrscht Lehrermangel. Da ist auch für den Fellow die Arbeitsbelastung hoch. Neben Mathematik lehrt der 28-Jährige Informatik. Für dieses Fach fehlte bislang eine Lehrkraft. Nachmittags baut der Rheinländer in einer Experimentierwerkstatt mit seinen Schülern Roboter, erstellt Webseiten oder verhilft Fünft- und Sechstklässlern zum PC-Führerschein. "Leider bleibt nicht immer die Zeit, alles nachzuarbeiten oder kreative Ideen für den Unterricht zu sammeln".
Gerade damit versucht Knabe den Frontalunterricht zu durchbrechen. So lässt er die Schüler in Mathe selbst aktiv werden. Sie basteln Dreiecke und berechnen damit Formeln, um die Theorie auch praktisch zu verstehen. "Mathe ist nicht gerade das beliebteste Fach."
Ein Ansatz, den Marianne Hemm, stellvertretende Vorsitzende der Hamburger Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW), wichtig findet. "Ein Lehrer muss fachlich richtig und verständlich erklären können. Er muss die Neugierde von Schülern befriedigen", meint sie. Doch dafür hätten viele Lehrer oft kein Verständnis. Hemm plädiert daher für eine kompetente Ausbildung. Gerade darin sieht sie ein Problem bei Teach First - und zugleich eine Gefahr für das Bild des Lehrerberufs. "Es entsteht der Eindruck, dass ein zukünftiger Lehrer keine pädagogische Ausbildung mehr braucht", bemängelt sie.
Die Hamburger GEW-Frau findet auch den soziokulturellen Hintergrund der meisten Fellows problematisch. Dieser würde sich von dem der Schüler an Brennpunktschulen deutlich unterscheiden. 20 Prozent der von Teach First eingesetzten Absolventen haben Migrationshintergrund oder stammen aus bildungsfernen Familien.
Dass die Fellows eine Konkurrenz für Lehreranwärter sind, glaubt Hemm nicht - im Gegensatz zur Bildungsgewerkschaft in Berlin. Deren Vertreter befürchten, die Fellows könnten junge qualifizierte Lehrer verdrängen - wie das gehen soll, ist freilich ein Rätsel. Denn den Schulen in Deutschland steht eine gigantische Lehrerlücke bevor. Viele Stellen sind bereits jetzt nicht besetzbar. Bis zum Jahr 2020 werden rund 460.000 LehrerInnen aus dem Schuldienst ausscheiden. So steht es in einer Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm. Und niemand zweifelt daran, dass das stimmt. Der Wettkampf um die Lehrer hat begonnen.
Die Berliner GEW-Kollegen stört so einiges an Teach First. Die Fellows wollten nur den eigenen Lebenslauf aufpolieren und die Karriere vorantreiben, heißt es. Ein Vorwurf, den die Gründerin von Teach First Deutschland, Kaija Landsberg, nicht verstehen kann. "Da gäbe es andere und einfachere Wege", sagt sie. "Außerdem ist es schön, wenn engagierte Absolventen ihre Kraft und Energie in Schüler stecken, bevor sie von Unternehmen verheizt werden." Für 1.700 Euro brutto unterstützen die Fellows erfahrene Lehrer.
"Bevor es im Beruf richtig losgeht, möchte ich Jugendlichen noch einmal helfen", verrät Johannes Knabe. Sozial hatte er sich bereits in internationalen Workcamps engagiert. Und dabei immer versucht, Jugendliche zu motivieren und zu bewegen. Das möchte Knabe auch bei seinen Schülern in Hamburg. Ihnen eine Perspektive geben. Denn die Mehrheit seiner Schüler haben arbeitslose Eltern, zwei Drittel ausländische Wurzeln.
Weniger Jugendliche mit Migrationshintergrund, sondern viele aus Arbeiterfamilien betreut Insa Larson an der Lise-Meitner-Gesamtschule in Duisburg. Als sie ihr Abitur bestand, war sie sich über ihre Zukunft noch unsicher. Studium oder doch Ausbildung? Diese Fragen stellen sich auch die meisten ihrer Schüler. "Vielen fehlt der Antrieb nach dem Abi. Sie wissen nicht, was sie machen sollen", verrät Larson. Die Eltern wüssten oft keinen Rat. Kein Wunder, haben die meisten weder studiert noch Abitur gemacht. Mit einer Berufsberatung versucht die 25-Jährige zu helfen. "Das Potenzial ist da", sagt sie. "Man muss es nur erkennen und die Schüler unterstützen."
Daher hat die studierte Biologin mit ihren Schützlingen auch schon Vorlesungen an der Uni Duisburg besucht. Die Schüler freuen sich, ein bisschen Campusluft zu schnuppern zu dürfen, sagt sie. Aber auch mit anderen Projekten versucht Larson die Interessen und Talente der Jugendlichen zu fördern. Etwa mit einer Podcast-AG. "Wir machen Hörspiele, Radiosendungen oder Interviews", erzählt sie. "Gerade ruhige oder schwächere Schüler kommen hier mehr aus sich raus und sind mutiger."
Der Glaube an die Schüler ist Larson wichtig. Und auf deren Bedürfnisse individuell einzugehen. Das versucht auch Michael Schultheiß. In der neunten Klasse unterrichtet er gemeinsam mit seiner Kollegin Englisch. Haben die Schüler Fragen, wenden sie sich aber immer an den jungen Mann. Er nimmt sich Zeit, wenn er die Fragen beantwortet. Genau das mögen seine Schüler. "Er ist nicht so streng und verliert nie die Geduld", meint Anna Horst. "Außerdem kann er gut erklären." Die 14-Jährige hat sich um zwei Noten verbessert. Wie auch ihr Mitschüler Ali Chehade. Regelmäßig besuchen beide den Englisch-Club. "Ich traue mich, im Unterricht mehr zu sagen", verrät der 15-Jährige. "Herr Schultheiß versucht uns immer zu motivieren." Mit Erfolg. Denn Englisch macht Ali viel mehr Spaß. Darüber kann sich der Fellow freuen - vielleicht sogar auf Englisch.
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