Und immer wieder ist der Tipp dahin: Refreshing, Brutalismus und der Ball
Ausgehen und Rumstehen
von Jens Uthoff
Refreshing“ sei die kalte Tomaten-Wassermelonen-Suppe, die heute auf der Tageskarte stehe, sagt die Kellnerin in meinem Stammcafé in der Schönleinstraße. Eigentlich bin ich gegenüber dieser Anything-goes-Küche außerordentlich zurückhaltend; an diesem Freitagmittag aber, bei einer Außentemperatur von mehr als einer Fantastilliarde Grad, greife ich zu. „Refreshing“: wie gut allein dieses Wort in der prallen, heißen Sonne klingt!
Es ist der Tag, an dem man sich auch fragen muss, ob die Briten noch ganz frisch sind. Der Brexit ist auch hier im Café Thema. Eine der Kellnerinnen ist Schottin, ich frage sie, ob sie auch gewählt hat. „Klar, für ‚Remain‘“, sagt sie. Sie überlege, ob sie nun Deutsche werden solle. Noch aber hoffe sie auf ein neuerliches Referendum in ihrer Heimat. Die pürierte Tomaten-Melonen-Pampe schmeckt ganz okay, zumindest kühl im Abgang.
Am Abend geht’s ins HAU, da läuft ein Fußball-Musical von Maurice Summen und Patrick Wengenroth (s. taz von gestern). Nach dem Stück: angenehmes Abhängen und Chillen vor dem WAU in der Hitze der Nacht. Das heißt, die meiste Zeit steht man eigentlich in der Getränkeschlange, denn die ist lang. Einer macht Ärger, weil er keine Pizza bekommt. Ich unterhalte mich mit Bekannten, die mal im Ruhrpott gelebt haben. Wir kommen auf den gestorbenen Bochumer Schriftsteller Wolfgang Welt zu sprechen. Überhaupt, auf die ganzen Toten dieses Jahres. Jetzt, so stellen wir fest, hat’s auch noch Großbritannien erwischt.
Am Samstag gibt’s nach zwei EM-freien Tagen wieder Fußball. Nachmittags treffe ich mich mit N. in der Hasenheide, wir schauen das Spiel Polen gegen die Schweiz in der Hasenschänke. Dort wirkt es immer so, als sei die Zeit stehengeblieben. Wenn nicht einige Indizien darauf hinweisen würden, dass 2016 ist (Public Viewing, Ingwerlimonade, Expats), könnte man denken, man wäre in einen Film mit Parkausflüglern in den sechziger Jahren geraten. Der Betonbau mit dem Vordach wirkt brutalistisch; die Frisuren einiger Menschen, die hier schauen, auch. Die Polen sind in der Überzahl – sie jubeln, nachdem Polska das Elfmeterschießen gewinnt. Ich nicht, denn mein Tipp ist dahin.
Die interessantere Public- Viewing-Erfahrung folgt am Abend: Da schauen wir in der Emmauskirche in Kreuzberg das Spiel Kroatien gegen Portugal mit Kirchenorgel-Begleitung. Der Stummfilmpianist Stephan von Bothmer vertont hier einige Matches live und synchron zum Spielgeschehen. Wenn die Trainer finster und skeptisch vom Spielfeldrand dreinblicken, unterlegt von Bothmer das mit dramatischen Melodien. Bei den härteren Fouls haut er ordentlich in die Tasten und spielt Dissonanzen, zwischendurch ertönt verspielte Stummfilmmusik. Die Partie ist ein ganz schönes Geholze, fußballästhetisch sicher kein Hochgenuss. Durch das Orgelspiel – mal klingt es nach Bartók, mal nach Beethoven, dann streut von Bothmer Pop-Hits und Fanhymnen ein – wirkt das Ganze gar nicht so schlimm. Den Schlussakkord setzen die Portugiesen: ein irgendwie unverdientes Siegtor kurz vor Ende der Verlängerung. Die Kroaten, in den Kirchenreihen in der Überzahl, tragen Trauer. Ich auch, denn mein Tipp ist dahin.
Auch der Abschluss des Wochenendes ist fußballlastig: Mit ein paar Leuten schauen wir am Sonntag Deutschland gegen die Slowakei vor einem Späti in der Dieffenbachstraße. Der gleicht während der EM eher einem kleinen Freiluftstadion. Familiäre Atmosphäre und ein einseitiges Spiel, das eigentlich zur Pause gelaufen ist. Der indische Brotverkäufer mit seinem Körbchen („Papadam! Papadam!“) macht die meiste Stimmung. Er verkauft trotzdem nicht viel. Der Höhepunkt der zweiten Halbzeit, zumindest hier, ist die Einwechslung von Lukas Podolski – „Lululu“-Rufe sind zu hören. Nachdem er drei Fehlpässe gespielt hat, ebbt der Jubel ab.
Nach dem Schlusspfiff gehen in der benachbarten Graefestraße ein paar Raketen hoch. Wir ziehen ab. Die Luft hat sich inzwischen refresht.
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