Unchristlicher Wahlkampf ohne Ethik: Du sollst nicht lügen!
Die Wahrheit ist das erste Opfer des Wahlkampfs zum Volksentscheid. Gegner wie Befürworter von "Pro Reli" haben sich schwer versündigt gegen das achte Gebot.
Für alle die im Religionsunterricht geschlafen oder ihn komplett versäumt haben: Das achte der berühmten Zehn Gebote lautet in seiner Kurzform: "Du sollst nicht lügen!" Oder noch genauer, in der hübsch verschnörkelten Sprache der Bibel: "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten." Jedoch: Auf einem Transparent von "Pro Reli", das etwa an der Adalbert-Kirche in Mitte hängt, heißt es: "Wir glauben nicht, dass man auf Religionsunterricht verzichten kann. Freie Wahl zwischen Ethik und Religion." Das ist der ganze Text. Wer ihn liest, muss glauben, dass Schüler auf Religionsunterricht verzichten müssten - und dieser Eindruck ist falsch.
In Wirklichkeit geht es um eine andere Frage. Doch sie ist zu profan, zu kleinteilig, um damit die Massen zu mobilisieren. Also wird getrickst und geblufft und der Volksentscheid so lange mit Bedeutung aufgeblasen, bis man glaubt, damit die erhoffte Wirkung zu erzielen.
Am Sonntag geht es um die Frage, wie attraktiv der Religionsunterricht sein soll. Bisher können die Kirchen von der ersten bis zur letzten Klasse freiwilligen Religionsunterricht anbieten - aber nur zusätzlich zu den anderen Unterrichtsfächern. Die Kirchen wollen, dass die Schüler, die sich für "Reli" entscheiden, im Gegenzug keinen Ethikunterricht mehr haben. Das soll mehr Schüler in den Religionsunterricht treiben.
Man kann dieses Anliegen falsch oder richtig finden. Nur die Werbekampagne für den Volksentscheid, die mehr aus Desinformation als aus Aufklärung besteht, geht schon in ihrem Grundton völlig am Kern vorbei. "Pro Reli" behauptet: "Es geht um die Freiheit." Auf einer Website sollen die Berliner "Lichter für die Freiheit" entzünden. Der Quizmoderator Günther Jauch wirbt auf Großflächenplakaten mit dem Spruch: "In Berlin gehts um die Freiheit. Sagen Sie nicht, Sie hätten keine Wahl gehabt." Wer das sieht, kann den Eindruck haben, der rot-rote Senat wolle das Land Berlin in eine Diktatur verwandeln. Jeder Berliner, der mit Ja stimmt, kann so das Gefühl haben, selbst einmal zum Freiheitskämpfer zu werden. Fast ein bisschen wie die Geschwister Scholl.
Auch die Gegenseite schießt weit über das Ziel hinaus. Auf dem Plakat der Linkspartei steht: "Religion ist freiwillig. Damit das so bleibt, am 26. April mit Nein stimmen!" Dabei will ja überhaupt niemand Religion oder den Unterricht zur Pflicht machen.
Es gäbe so viele zulässige Argumente gegen die Ziele des Volksentscheids. Doch die Linkspartei setzt nicht auf Aufklärung. Sie nimmt auch nicht die falsche Freiheits-Argumentation der Kirchen auseinander. Sondern sie zielt selbst am Kern der Sache völlig vorbei. Klar, damit kann man die eigenen Anhänger leichter mobilisieren. Aber es ist zutiefst zynisch, von einem dummen Wahlvolk auszugehen und es durch so eine Kampagne weiter zu verdummen. Die Bürger als Souverän können mehr Respekt erwarten.
Der Volksentscheid wirft auch ein Schlaglicht auf die Kultur der politischen Debatte in Berlin und darüber hinaus: Wenn schon bei so einem vergleichsweise kleinen Thema so viel getrickst wird, wie sieht es dann erst bei den großen Fragen aus? Bei denen vielleicht auch alles etwas komplizierter ist und sich Lügen nicht so leicht entlarven lassen?
Natürlich gibt es auch viele Plakate mit zulässigen Argumenten. Etwa von der SPD: "Religion oder Ethik? Wir machen beides!" Oder von der Initiative "Pro Ethik": "Ethik: Gemeinsam, nicht getrennt". Doch auch der Senat argumentiert nicht fair. SPD-Bildungssenator Jürgen Zöllner sagte: "Jeder, der dann nicht in den Ethikunterricht geht, ist aus meiner Sicht ein Verlorener für die staatliche Aufgabe der Integration." Für ihn gebe es "keinen Zweifel, dass ein erfolgreicher Volksentscheid die wichtige Integrationsaufgabe der Schulen gefährdet." Ethikunterricht ist zwar wichtig für die Integration - aber sicher nicht der alles entscheidende Faktor. Integration ist schließlich eine Aufgabe der gesamten Schule, nicht nur des Ethikunterrichts.
Bernhard Schlink, Romanautor und Juraprofessor, sagte im Interview mit dem Tagesspiegel: "Ich hatte gehofft, die Kirchen würden für ihr politisches Engagement eine wahrhaftigere Sprache finden als die politischen Parteien."
Doch am Ende trafen sich beide Seiten auf dem gleichen, niedrigen Niveau. Zerstörte Plakate, Gegendarstellungen und ein Eilverfahren um die Frage, wer wann wie und mit welchen Finanzmitteln etwas sagen darf oder nicht. So sieht er aus, der Streit über die Vermittlung der grundlegenden Werte.
Katholiken immerhin sind im Vorteil. Wenn sie Buße tun und ein paar "Ave Maria" beten, werden ihnen alle Sünden vergeben.
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